1550 - Die Frau aus der Knochengrube
eine Lücke.
Vanessa hatte schon alles vorbereitet und warf jetzt den Strick mit der Schlinge über den Balken. An der Seite band sie das andere Ende an einem starken Eisenhaken fest.
Die Schlinge baumelte über ihrem Kopf. Sie musste auf den Schemel steigen, um sie sich um den Hals legen zu können.
Der Schemel stand bereit. Sie holte ihn von der Wand und stellte ihn unter die Schlinge.
Ein kurzer Blick.
Sie schaute hoch, dann wieder nach unten und war zufrieden.
Jetzt musste sie nur noch auf den Schemel steigen und sich die schon fertige Schlinge über den Kopf ziehen.
Alles war so einfach.
Bis sie das leise Lachen hörte.
Vanessa erstarrte mitten in der Bewegung. Zugleich rann es ihr kalt über den Rücken.
Sie war gestört worden.
Sie wusste nicht, was sie tun sollte.
War das Lachen echt gewesen? Stand jemand in ihrer Nähe und beobachtete sie?
Sie fand keine Antwort, weil sie einfach nichts sah. Nur dieses leise Lachen war zu hören gewesen - und das wiederholte sich jetzt.
Sie zuckte zusammen.
Wo steckte der Beobachter?
Irgendwo vor ihr musste er sein. Aber nicht in der Box, sondern draußen im Gang.
An und zugleich in der Tür sah sie die Bewegung. Im Holz zeichnete sich etwas ab.
Vanessa wusste zunächst nicht, um was es sich handelte. Sie verglich es mit einem hellen Fleck oder einem Schemen, der sich innerhalb der Tür bewegte.
Vanessa verstand die Welt nicht mehr. Etwas war völlig anders geworden. Bisher war hier alles normal gewesen, aber jetzt, wo…
Die Gedanken überschlugen sich.
Der Schemen - Himmel, er veränderte sich und schob sich zugleich nach vorn!
Und als er im Innern der Box stand, begann er sich zu verändern.
Lautlos richtete er sich auf, wobei er stets im Blick der jungen Frau blieb; die eine Hand erhoben hatte und bereits die Schlinge umklammerte wie jemand einen Griff in der U-Bahn.
Sie hatte Besuch bekommen. Und dann hielt sie vor Überraschung den Atem an, denn sie kannte diese Gestalt von ihrem Monitor her.
»Nein…«, hauchte sie.
Die andere sagte nichts. Sie nickte nur und bestätigte damit, dass sie tatsächlich die Schattenfrau war, die erschienen war, um Vanessa Brown auf dem Weg in ihr neues Leben zu begleiten, in dem es keine Pferde, keinen Stress und keine Trauer mehr gab…
***
Wir hatten nach einigem Suchen den Reiterhof gefunden, der abseits der Ortschaft lag. Praktisch mitten im Gelände, wo genügend Platz für Weiden, Koppeln und die Gebäude war.
Ein breiter Weg zerschnitt die Weiden, die eine winterliche grünbraune Farbe zeigten. Nichts störte die Ruhe, der wir entgegenfuhren.
Einsamkeit war hier Trumpf.
Wir hatten auf der Fahrt hierher über das Phänomen der Selbstmorde gesprochen und auch darüber, wie leicht manche Menschen zu beeinflussen waren. Stärker als in früheren Zeiten, und das ließ wiederum darauf schließen, dass die Menschen einsamer geworden waren.
Ein Zeichen dafür waren die zahlreichen Single-Börsen und Blind Dates, zu denen man sich im Internet verabreden konnte. Wobei doch viele wieder frustriert den Heimweg antraten und sich erneut in die Einsamkeit ihrer Wohnungen zurückzogen.
»Sieht recht leer aus«, meinte Suko.
Ich zuckte mit den Schultern. »Das hat nun mal der Winter auf einem Reiterhof so an sich. Oder möchtest du um diese Zeit Ferien machen?«
»Ich? Nie! Ein Reiterhof ist nichts für mich.«
»Ja, ich weiß. Du reitest lieber auf einem Tiger.«
»Wenn schon, denn schon.«
Suko stellte unseren Wagen vor einem Gebäude ab, das wie das Haupthaus aussah. Es war aus roten Steinen errichtet. Auf dem Dach schimmerte eine grünliche Patina. Die Haustür wurde von zwei Bänken flankiert. Zwei Autos sahen wir auch. Einen kleinen Ford und einen größeren Wagen mit offener Ladefläche.
Als wir ausstiegen, hörten wir das typische Geräusch, das entsteht, wenn jemand Holz hackt. Doch auch bei einem Rundblick sahen wir nicht, wo der Mann arbeitete.
»Das muss hinter dem Haus sein«, sagte Suko »Gut. Dann ist wenigstens einer anwesend.«
Wir schauten nach. Dabei gingen wir an einigen zusammengerollten Schläuchen vorbei und hörten, wie die Geräusche plötzlich verstummten.
Es wurde still, nichts war mehr zu hören, nicht einmal das Wiehern oder Hufescharren von Pferden. Man hätte meinen können, sich hier auf einem verlassenen Reiterhof zu befinden, denn auch auf den Koppeln sahen wir keine Tiere.
Wir erreichten die Rückseite des Hauses und sahen einen Mann, der neben einem Hauklotz stand. Er
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