1560 - Ahnenfluch
angemessen, Shao zu wecken.
Er fasste nach ihrem Arm und rüttelte sie.
Shao wurde nicht wach. Sie gab nur einen unwilligen Laut von sich, ihre Augen blieben geschlossen.
Suko sprach sie an.
»Shao du musst aufwachen, bitte…«
Er wusste nicht, ob es seine drängende Stimme gewesen war, die dafür sorgte, dass sie die Augen öffnete, oder das erneute Rütteln am Arm, jedenfalls schlug sie die Augen auf, und das mit einer recht langsamen Bewegung. Zugleich fing sie an zu sprechen und flüsterte Worte, die auf Sukos Rücken einen Schauer hinterließen.
»Sie sind da! Himmel, sie sind da! Ich habe sie gesehen! Sie kamen aus der Hölle und…«
»Wer ist da?«, fragte Suko mit eindringlicher Stimme. »Bitte, Shao du musst es mir sagen.«
»Die Schatten - der alte Fluch…« Ihre Worte verwehten.
»Was hast du gesehen?«
Trotz der eindringlichen Worte erhielt Suko keine Antwort. Zwar flüsterte Shao etwas, aber Suko verstand nicht ein Wort davon. Er wollte es aber nicht zulassen, dass Shao in diesem Zustand blieb, der für ihn aussah wie zwischen Wachsein und einem Traum. Shao war auch mit ihrem Oberkörper nach vorn gesunken, sodass sie mit den Knien gegen die Lehne des Vordersitzes stieß. Sie saß da wie eingeklemmt.
Suko griff zu und setzte sie normal hin. Er hörte ihren tiefen Atemzug, und sie drehte ihm sogar das Gesicht zu, auf dessen Haut sich kleine Schweißperlen gesammelt hatten. Und er schaute in ihre nicht mehr geschlossenen Augen, deren Blick verhangen aussah. Er umfasste jetzt ihre Schultern. »Bitte, Shao, kannst du mich hören und auch verstehen?«
»Wie?«
Suko wiederholte seine Frage, und er sah, dass Shao zu einem Nicken ansetzte.
Dann stöhnte sie leise auf und schien endlich wieder auf dem Weg ins volle Bewusstsein zu sein, was allerdings ein Irrtum war, denn ihr Blick blieb verhangen.
»Es ist etwas hier, Suko. Ja, hier ganz in der Nähe. Und ich kann es nicht zurückdrängen. Ich habe es gesehen, es war ganz dicht bei mir. Es hat mich berührt…«
»Was hast du gesehen?«
»Die Bilder, Suko, die schrecklichen Bilder. Die Monster, die Toten, die aus ihrer Welt gespült wurden. Es war grauenhaft, das musst du mir glauben. Und es war kein Traum, sondern eine schlimme Realität. Ich weiß, dass sie hier sind.«
Suko widersprach ihr nicht. Er brauchte nur an sein ungutes Gefühl zu denken, das ihn überfallen hatte, und die Sorge in ihm wuchs.
Er ließ Shao zunächst in Ruhe und beugte sich in seinem Sitz wieder vor, sodass er über die Lehnen und die Köpfe einiger Passagiere hinwegschauen konnte. Er wollte sehen, ob andere Menschen etwas Ähnliches erlebt hatten wie seine Shao.
Etwas besonders Auffälliges entdeckte er nicht. Vielleicht waren die Menschen zu ruhig, und auch die Kinder - es waren drei, die er auf seinem Weg durch den Gang gezählt hatte - verhielten sich so still wie in einer Sonntagsschule beim Gebet.
Offenbar wartete das Andere noch ab und würde erst erscheinen, wenn es den Zeitpunkt für richtig hielt.
Shao wischte sich über die Stirn. Auch diese Bewegung führte sie langsam und müde aus. Dann ließ sie den rechten Arm sinken und schüttelte den Kopf, während sie fragte: »Was ist nur mit mir los, Suko?«
»Ich weiß es nicht.« Doch schon Sekunden später musste er zusehen, wie sich die Umgebung im Passagierraum veränderte.
Etwas Fremdes hatte sich eingeschlichen. Wie in der vergangenen Nacht, als etwas in seine Träume eingedrungen war. Plötzlich waren Bilder vor seinem geistigen Auge. Ein gespenstisches Licht, die Toten, die von anderen Kreaturen begleitet wurden. Wesen, die in Albträumen ihren festen Platz hatten, die aber von den Menschen nicht vergessen worden waren, denn man fand sie auf Zeichnungen und Bildern wieder, wenn Menschen das, was sie in ihren Träumen gesehen hatten, aufgezeichnet und für die Nachwelt hinterlassen hatten.
Und dass Suko plötzlich eine vage Erinnerung daran hatte, was in seinem Albtraum in der Nacht geschehen war, konnte nur bedeuten, dass das Fremde auch hier in der Nähe war.
Die Maschine flog ruhig. Es gab kein Schütteln oder Rucken. Auch die Passagiere waren nicht aufgeregt. Sie saßen auf ihren Sitzen, und manche bewegten sich kaum.
Shao starrte ihn an. Sein rechter Arm lag noch immer auf ihren Schultern. Suko wartete darauf, dass seine Partnerin etwas sagte, aber sie atmete nur schwer.
»Sie haben uns im Griff, Suko!«, brachte sie flüsternd hervor. »Ich spüre das. Wir sind nicht mehr allein.«
Der
Weitere Kostenlose Bücher