1560 - Ahnenfluch
mich.« Er ließ sie nicht ausreden. »Wir waren vor dem Einchecken noch in der Frachthalle und haben uns den toten alten Mann in seinem Sarg angesehen. Es war Hai King, zu dessen Geburtstag wir eigentlich geflogen sind.«
»Ja, genau das haben wir getan. Und das gehört zu meinem Problem, Suko.«
»Welches Problem?«
»Mir fehlt eine ganze Zeitspanne. Ich weiß nicht mehr genau, was seit dem Start hier in der Maschine geschehen ist. Und das macht mir Sorgen.«
»Wir haben hier gesessen.«
»Und weiter?«
»Nichts.«
Shao schlug mit der flachen Hand auf ihren rechten Oberschenkel.
»Und doch ist da etwas gewesen«, sagte sie. »Da gab es Dinge, die nicht normal sind.«
»Welche denn?«
Shao schnippte mir den Fingern wie jemand, der plötzlich die große Idee hatte.
»Erinnerst du dich daran, dass du telefoniert hast? Du bist ins Cockpit gegangen und hast mit John in London telefoniert. Weißt du noch?«
Suko gab keine Antwort. Er saß wieder aufrecht in seinem Sitz, hatte die Stirn in Falten gelegt und schaute nach vorn.
»Warum hätte ich das tun sollen?«
Shao zuckte zusammen, weil die Frage sie erschreckt hatte, ihr zugleich aber einiges erklärte.
Er wusste es nicht mehr. Irgendein Vorgang hatte ihm die Erinnerung genommen.
Wobei Shao zugeben musste, dass es bei ihr auch der Fall war, nur nicht so stark wie bei ihrem Freund.
»Sag es mir, Shao, warum hätte ich das tun sollen? Es ist alles in Ordnung. Wir werden John bald sehen. So wichtige Dinge, dass ich ihn hätte anrufen müssen, gibt es nicht.«
»Ja, das ist wohl wahr.«
»Können wir uns dann darauf einigen, dass alles in Ordnung ist?«
Sie hob die Schultern. Das Thema war für sie zu kompliziert. Auch deshalb, weil sie sich selbst wie eine Gefangene in einem geistigen Käfig fühlte. Auch ihr fehlte eine Zeitspanne, aber bei ihr war die Erinnerung zumindest noch schwach vorhanden.
Dass ihre Gedanken dabei zu dieser Mumie im Frachtraum wanderten, war normal.
Und auch der Schatten der Flugbegleiterin, der über sie fiel.
»Darf ich Ihnen etwas zu essen anbieten?«
»Was ist es denn?«, fragte Suko.
»Kaltes Roastbeef. Dazu Brot und einen Salat.«
»Danke, das nehme ich.«
»Sie auch, Lady?«
»Nein«, sagte Shao, »ich habe keinen Hunger. Vielleicht später, vielen Dank.«
Suko nahm noch ein Wasser dazu. Er stellte die kleine Flasche neben den mit einer Plastikfolie überklebten Porzellanteller, wickelte das Besteck aus und lächelte vor sich hin.
»Du wirst lachen, Shao, ich habe wirklich Hunger.«
»Ja, das gönne ich dir.«
Suko begann zu essen, während Shao sich ihren Gedanken hingab. Allmählich stieg ein Gefühl in ihr hoch, das sie wegen der Ablenkungen nicht weiter beachtet hatte.
Jetzt aber war es da.
Es war die Angst!
Sie war wie ein Fremdling, der sich in ihre Psyche hineinbohrte, und sie konnte sich nicht dagegen wehren. Aber auch eine gewisse Klarheit war in ihren Gedanken, und so ging sie davon aus, dass sie und Suko von einer fremden Macht manipuliert worden waren. Und sie war davon überzeugt, dass der alte Tote damit zu tun hatte.
Tote? Bei diesem Begriff hakten ihre Gedanken. Er hatte zwar tot ausgesehen, aber war er das auch wirklich?
Shao hatte Probleme damit, und sie schüttelte einige Male den Kopf. Er war tot, aber sie musste daran denken, wie oft sie und Suko schon erlebt hatten, dass auch Tote noch Macht besaßen. Wie oft hatten sie schon mit den so genannten Untoten zu tun gehabt!
Auch hier?
Ein kalter Schauer rann über ihren Rücken, obwohl sie in ihrem Innern eine starke Hitze spürte. Auf ihrer Stirn bildeten sich Schweißperlen, und es kostete sie Mühe, sich zusammenzureißen und starr sitzen zu bleiben.
Suko sprach sie an, und er redete über ein völlig normales Thema.
»Bitte, probier doch mal, Shao. Es schmeckt wirklich fantastisch. Das Fleisch ist zart und auch sehr gut gewürzt.«
»Nein, bitte nicht.«
»Schade.« Suko legte das Besteck neben den Teller und drehte den Kopf nach links, um Shao ins Gesicht schauen zu können.
Sie hielt seinem Blick stand und erlebte in der folgenden Sekunde einen Schlag, den sie nur als Horror bezeichnen konnte.
Es war der Blick in seine Augen.
Sie waren nicht mehr normal.
Beide hatten eine grüne Farbe angenommen!
***
Ein Huftritt in den Magen hätte sie nicht stärker treffen können.
Shao blieb einfach die Luft weg. Sie hatte zugleich das Gefühl, von ihrem Sitz abzuheben, verspürte in ihrem Kopf einen Schwindel, der sich allmählich
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