1572 - Das Ritual
einem Rasen wollte ich hier nicht sprechen, dazu wuchs das Gras einfach zu hoch und war durchmischt mit kleinen Blumen. Die Wiese reichte bis an das Ende des Grundstücks, wo ein grüner Maschendrahtzaun die Grenze zum Nachbarn bildete.
Auf dem Grundstück bewegte sich auch nichts, und ich drehte mich um, weil ich die Rückseite in Augenschein nehmen wollte.
Auch hier gab es Fenster und den üblichen Balkon in der ersten Etage.
Dagmar Hansen kam zu mir. »Harry ist vorn«, sagte sie, »er hat schon geschellt.«
»Und?«
»Es öffnet niemand.«
»Hab ich mir beinahe gedacht.«
»Und trotzdem sind wir hergefahren?«
»Ja, und zwar bewusst. Dieser Paul Köster braucht einen Ort, an den er sich zurückziehen kann. Die Begegnung mit uns hat ihm nicht gefallen. Ich gehe mal davon aus, dass sich Menschen dorthin zurückziehen, wo sie glauben, sicher zu sein.«
»Das mag so sein und…« Dagmar stutzte plötzlich. »Da war doch was …«
»Wo?«, fragte ich.
Ihr rechter Arm schnellte hoch. »Dort. In der ersten Etage. Da hat sich etwas bewegt. Hinter der Scheibe. Ich glaube, das ist er gewesen. Das muss einfach so sein.«
»An welchem Fenster denn?«
»Hinter keinem. Es war die Tür zum Balkon.«
Ich richtete mein Augenmerk auf das bewusste Ziel und brauchte nur Sekunden, um zu erkennen, dass sich Dagmar nicht geirrt hatte.
Hinter der Tür stand jemand. Er war in der Glasscheibe deutlich zu erkennen. Es war Paul Köster, das sah ich an seiner Kleidung.
»Jetzt bin ich mal gespannt«, flüsterte Dagmar.
Das war ich auch. Nur glaubte ich nicht, dass Paul die Tür freiwillig öffnen würde. Es musste uns gelingen, ihn dazu zu bringen.
Auch Harry kam jetzt zu uns. Er wollte etwas sagen, hielt sich jedoch zurück als er sah, dass wir zu einer bestimmten Stelle hoch schauten, was er auch tat, ohne eine Frage zu stellen.
»Da ist er ja.«
Ich nickte. »Er braucht nur noch rauszukommen. Ich denke, dass es schwierig sein wird, ihn zu überzeugen.«
Es war nicht nötig, dass wir uns weiterhin darüber Gedanken machten, denn die Reaktion kam von Paul Köster. Wir sahen seine Bewegung hinter der Scheibe, dann war die Tür zum Balken plötzlich offen. Er kam noch nicht, zögerte, schaute in den Garten, wo wir auf ihn warteten, und ich hatte dabei den Eindruck, als wäre er dabei, zu überlegen, was er tun sollte.
Harry Stahl übernahm die Initiative. Er legte den Kopf zurück, seine Hände bildeten neben dem Mund einen Trichter, und er sprach Paul Köster mit lauter Stimme an.
»Wir sind zu Ihnen gekommen, Paul, um in aller Ruhe mit Ihnen zu reden. Es passiert Ihnen nichts, Paul, das verspreche ich.«
Der junge Mann zögerte. Er kam uns vor, als würde er sich wie eine Puppe bewegen. Er hob ein paar Mal die Schultern, kniff dann die Augen zusammen, hielt sie auch geschlossen und schaffte es tatsächlich, den ersten Schritt zu tun, was ihn eine große Überwindung kostete.
Mir gefiel es nicht, dass er sich so unnormal bewegte. Wir standen zwar nicht in seiner Nähe, trotzdem versuchte ich, mich auf sein Gesicht zu konzentrieren. Für mich sah es so aus, als wäre sämtliches Leben aus ihm gewichen. Es war starr. Es sah aus, als hätte sich über seine normale Haut noch eine zweite gelegt. Auch in den Augen sah ich kein Leben.
Die dunkle Jacke hatte er nicht abgelegt. Die schwarzen Haarsträhnen fielen ihm bis in die Stirn, und sein Blick war nach wie vor ohne Glanz.
Der nächste Schritt brachte ihn bis an die Brüstung. Von dort aus schaute er über die mit Geranien gefüllten Balkonkästen hinweg, aber er hatte den Blick nicht gesenkt, um in den Garten zu schauen. Er sah über uns hinweg.
»Was ist mit ihm los?«, flüsterte Dagmar.
Ich hob die Schultern. »Das kann wohl nur er sagen. Ich habe keine Ahnung. Aber ich kann mir vorstellen, dass er fremdbestimmt ist. Das ist nicht mehr er selbst. Der wird an der langen Leine geführt, und ich ahne auch, wer dahintersteckt.«
»Was sollen wir tun?«
»Ihn nur nicht provozieren.«
Dagmar lächelte. »Soll ich es mal versuchen, an ihn heranzukommen? Ich bin eine Frau. Kann sein, dass er zu mir mehr Vertrauen hat.«
»Gut, versuch es.«
Sie ging vor, hob beide Arme an und winkte ihm zu. Ihr Mund zeigte dabei ein Lächeln. »Bitte, Paul, wir wollen dir wirklich nichts tun. Bleib ruhig. Wir möchten nur mit dir sprechen. Ein paar Fragen, das ist alles.«
Zum ersten Mal reagierte er und schüttelte kurz und heftig den Kopf.
»Was ist so schlimm daran?« Dagmar
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