1574 - Töte mich, dunkler Spiegel
Atemzüge waren nicht mehr zu hören, doch ihre Blicke sprachen Bände.
»Sind wir jetzt gefangen?«, flüsterte Kid.
Susan nickte. »Es sieht so aus. Wir kommen hier nicht mehr aus eigener Kraft weg.«
Langster drehte den Kopf dem Spiegel zu.
»Das ist seine Schuld«, flüsterte er, »nur seine. Ich weiß es. Ich - ich…«
Langster konnte nicht mehr weiter sprechen. Sein Kopf sank nach vorn, und er stieß einen leisen Fluch aus.
Keiner wusste sich Rat.
Aber es gab einen, der die Kontrolle übernommen hatte. Seine düstere Gestalt zeichnete sich in der Spiegelfläche ab.
Sie kam den drei jungen Menschen noch bösartiger vor als bei ihrem ersten Erscheinen, und sie schien sogar so etwas wie eine Botschaft zu übermitteln.
Jetzt gehört ihr mir!
Zeit verstrich, in der jeder seinen Gedanken nachhing. Jeder suchte für sich nach einem Ausweg, doch es gab keinen.
Bis zu dem Augenblick, da Kid Langster einen halblauten Schrei vor sich gab.
»Was ist?«, rief Percy.
»Ich - ich - kann meine Beine wieder bewegen.«
»Ehrlich?«
»Ja!«
»Und? Kannst du auch aufstehen?«
Kid grinste verzerrt. »Ich will es versuchen.«
Er stemmte die Hände auf die Tischplatte, gab sich einen Ruck und stand plötzlich auf den Füßen, ohne dabei zur Seite zu kippen oder sich festhalten zu müssen.
»Das ist es doch. Und wie ist es bei euch?«
»Ich klebe hier fest«, flüsterte Percy.
Susan gab es nicht gern zu, dass es bei ihr nicht anders war, doch dann sagte sie: »Ich bin auch nicht in der Lage aufzustehen.«
Langster schüttelte den Kopf. Dann bewegte er sein rechtes Bein und trat einen Schritt zur Seite, was er ohne Probleme schaffte.
Er ging noch einen zweiten Schritt, mit dem er sich vom Tisch entfernte.
Sein Lachen klang erleichtert, als er für einen Moment stehen blieb, um seine Freunde anzuschauen.
»Ich gehe jetzt und hole Hilfe. Ist das okay für euch?«
»Ja, versuche es.« Susan nickte.
»Oder schlag den verdammten Spiegel kaputt«, flüsterte Percy. »Ich hasse ihn.«
Langster lachte nur, aber er schaute hin. Dabei hatte er das Gefühl, als wäre sein Kopf von einer fremden Macht gedreht worden. Bevor er näher darüber nachdenken konnte, begegnete sein Blick dem der düsteren Gestalt in Spiegel.
Und das veränderte alles. Kid hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Er wollte trotzdem laufen und den Schuppen so schnell wie möglich verlassen.
Es war ihm nicht mehr möglich!
Er war plötzlich nicht mehr in der Lage, etwas aus eigenem Antrieb zu tun. Und es war noch etwas hinzugekommen. Sein Kopf blieb starr. Ihn zu drehen war ihm nicht mehr möglich. Und so konnte er nur in eine Richtung schauen.
Das war den beiden anderen natürlich aufgefallen.
»Was ist los mit dir?«, rief Susan.
»Ich bin starr!«, lautete die weinerliche Antwort.
»Was bist du?«
»Ich kann mich nicht mehr bewegen. Kein bisschen. Nicht einmal den Kopf. Ich muss nur in eine Richtung schauen, immer nur auf den Spiegel.«
Seine Stimme klang bei jedem Wort hektischer. Aus allen Poren drang der Schweiß, der sehr bald sein ganzes Gesicht bedeckte und die Haut glänzen ließ.
Alle drei schauten in den Spiegel. Und sie alle sahen die gleiche Bewegung.
Die düstere Gestalt dort winkelte ihren rechten Arm an. Sie streckte die Hand nach vorn und krümmte den Zeigefinger zu einer lockenden Bewegung.
Jeder kannte das Zeichen. Wer einmal die Geschichte von Hansel und Gretel gelesen hatte, dem war in Erinnerung geblieben, wie die Hexe durch Fingerbewegungen ihre kindlichen Opfer angelockt hatte.
Das war auch hier nicht anders.
Kid ging los. Aber er bewegte sich nicht aus eigenem Willen. Jemand leitete ihn, und er war nicht in der Lage, dagegen anzugehen, sich zu drehen und den Weg zur Tür einzuschlagen.
Er tappte auf den Spiegel zu. Angelockt von der Fingerbewegung der düsteren Gestalt, die auf irgendeine Weise auch einen traurigen Eindruck machte.
Susan, Kid, Lena und Percy hatten sich vorgenommen, eine Nahtoderfahrung zu machen. Sie waren darauf gespannt gewesen, doch jetzt lagen die Dinge anders. Sie selbst konnten nicht mehr bestimmen. Es waren andere Mächte, die das taten.
Susan und Percy schauten auf Kids Rücken. Sie wussten, dass es keinen Sinn hatte, ihn zu rufen und ihn zur Rückkehr zu bewegen. Kid war in die Gewalt der anderen Macht geraten, die stärker war als der Wille eines Menschen.
Und so ging er weiter auf sein Ziel zu, das er sich so gewünscht hatte und das ihm nun zum Verhängnis werden
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