1583 - Das Mädchen und der Nakk
in ihrer neuen Heimat eintrafen, waren bereits allerlei Gerüchte über sie im Umlauf.
Obwohl man auf Nobim erstaunlich wenig unter der Herrschaft der Cantaro hatte leiden müssen, herrschte unter den Siedlern eine überaus feindselige Einstellung gegenüber allem, was noch aus der unseligen Zeit vor der Befreiung der Milchstraße stammte. Anstatt in den rehabilitierten Bionten hilfsbedürftige Opfer des alten Systems zu sehen, betrachtete man diese Geschöpfe als nur unzureichend entschärfte Kampf- und Mordsklaven der Cantaro.
Mit entsprechendem Mißtrauen hatten die ansässigen Siedler ihre neuen Nachbarn denn auch beobachtet.
Wer lange genug auf etwas schaut, der sieht am Ende auch tatsächlich etwas - und sei es auch nur in seiner Einbildung.
Einer der Bionten hatte nur ein Auge.
Das hatte den Siedlern nicht gefallen. Er hatte ihr Mißtrauen erregt und ihnen als Beweis dafür gedient, daß dieser einäugige Biont anders war als sie.
Wer anders war, der war automatisch auch verdächtig, und wer erst einmal in Verdacht geraten war, der war auch fast schon schuldig.
Der Rest war einfach: Man brauchte nur noch herauszufinden, worin das Verbrechen eines auf diese Weise schuldig gesprochenen Angeklagten bestand.
Man beobachtete den einäugigen Bionten auf Schritt und Tritt.
Einige Jahre nach der Ankunft der Bionten wurden in der Nähe der Siedlung mehrere Kinder ermordet. Für die Siedler stand sehr bald fest, daß einzig und allein der einäugige Varhas als Kindermörder in Betracht kommen konnte.
Eines Nachts fand man ihn im Zimmer eines kleinen Mädchens.
Eines Bionten-Mädchens wohlgemerkt.
Aber die Abstammung des Kindes interessierte die erbosten Siedler in diesem Fall nicht im geringsten.
Es blieb ungeklärt, auf welche Weise der einäugige Varhas in das Zimmer des Mädchens gelangt war. Es wurde auch nicht ermittelt, was er dort gewollt hatte.
Er selbst erzählte eine wilde, unglaubwürdige Geschichte.
Und das Kind war keine Hilfe, denn es stand offenbar unter einem Schock, brachte Traum und Wirklichkeit durcheinander und vermischte beides zu einem heillosen Durcheinander, aus dem man auch mit kühlem Kopf und bei reiflicher Überlegung kaum schlau werden konnte.
Die Siedler waren viel zu erbost, als daß sie sich erst noch des langen und breiten über den Wahrheitsgehalt dieser Geschichte die Köpfe zerbrochen hätten.
Sie hängten den einäugigen Varhas auf.
Noch in derselben Nacht wurden mehrere Häuser in Brand gesteckt. Die Bionten und ihre Familien wurden verprügelt und mißhandelt. Drei von ihnen überlebten das nicht.
Aber das alles war schon eine ganze Weile her: Volle acht Jahre.
Inzwischen hatten sich die Gemüter wieder beruhigt.
Die Bionten arbeiteten so hart wie jeder andere auch. Sie waren nicht aufreizend erfolgreich, aber auch nicht auffallend arm.
Man hatte sich an sie gewöhnt. „Und keiner von uns hat daran gedacht, die Bionten auf Nobim auf pentaskopische Fähigkeiten testen zu lassen!" stellte Julian Tifflor nachdenklich fest. „Als dieses Projekt gestartet wurde, war noch gar nicht bekannt, daß einzelne Bionten derartige Fähigkeiten haben", gab der Syntron zu bedenken. „Aber jetzt wissen wir es", erwiderte Tifflor gereizt. „Es scheint nur niemand daran gedacht zu haben, daß es auch einige von den rehabilitierten Bionten betreffen könnte. Gib eine Meldung nach Terra durch: Sie sollen sich um die anderen Gruppen kümmern, ehe es die Nakken tun!"
„Die Meldung wurde weitergegeben", teilte der Syntron mit. „Es müßten jetzt noch neunzehn Bionten von der ursprünglichen Gruppe übrig sein", überlegte Tifflor laut, um dem Syntron die Möglichkeit zu geben, seinen Gedankengängen zu folgen. „Selbst wenn alle neunzehn pentaskopische Fähigkeiten hätten - könnte das für die Nakken wirklich so wichtig sein, daß sie uns ein solches Theater vorspielen würden? Und was hat das mit der Ortung zu tun, die wir von GALORS erhalten haben?"
„Es ist noch längst nicht gesagt, daß es da einen Zusammenhang geben muß", wandte der Syntron ein. „Es könnte sich um ein zufälliges zeitliches Zusammentreffen zweier Ereignisse handeln, die an und für sich gar nichts miteinander zu tun haben."
„Aber es sind nicht mehr nur neunzehn!" fuhr Julian Tifflor fort, denn das war es nicht, worauf er jetzt hinauswollte. „Es sind inzwischen wesentlich mehr - jedenfalls nehme ich das an. Einige von ihnen sind fortpflanzungsfähig."
Ein Gedanke schoß ihm durch den Kopf.
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