1602 - Die Lady aus der Hölle
Sie fühlte sich beinahe mehr wie ein Mann. Das lag an ihrer Größe und an ihrem schmalen Gesicht, und ihre Figur konnte mit dem Attribut hager umschrieben werden.
Es gab Leute, die sie als Mannweib bezeichneten. Darüber hatte sie sich zwar immer geärgert, beim Blick in den Spiegel aber musste sie zugeben, dass dies tatsächlich zutraf.
»Scheiß drauf«, flüsterte sie, setzte die Flasche noch mal an und trank zwei große Schlucke. Dabei verzog sie das Gesicht und schüttelte den Kopf.
Da sie sich nahe der Tür aufhielt, die nicht geschlossen war, lauschte sie in den Flur hinein und damit auch nach oben. Sie wollte wissen, ob sich in der oberen Etage etwas tat, aber es blieb alles ruhig. Nicht mal Stimmen waren zu hören.
Sie wandte sich von der Tür ab, schritt mit der Whiskyflasche in der Hand zum Fenster und schaute hinaus. Der kleine Garten war zu einem eisstarren Gebilde geworden, in dem die Pflanzen wie Fremdkörper wirkten. Es gab nicht mal eine Handvoll davon. Aber das war ihr egal.
Was hatte Richard getan? Warum hatte man ihn umgebracht?
Mandy kannte die Gründe nicht. Aber sie konnte nachdenken und gelangte zu dem Schluss, dass ihr Bruder so etwas wie ein Doppelleben geführt hatte, und dabei musste er den Bogen überspannt haben.
Über der Stadt lag ein aschgrauer Himmel, aus dem winzige Schneekristalle fielen. Es war nur ein schwaches Rieseln. Richtiger Schnee war nicht angesagt worden.
Sie schaute auf die Flasche. Ein kleiner Rest befand sich noch darin. Mit einem Ruck kippte sie ihn in die Kehle und stellte fest, dass sie nicht zufrieden war. Noch immer war ihr Inneres aufgewühlt, und sie hätte sich schon richtig betrinken müssen, um in einen anderen Zustand zu geraten. Das hatte sie einige Male in ihrem Leben getan, aber nach dem Rausch war es ihr nie gut gegangen.
Mandy Lester versuchte, die unangenehmen Gedanken loszuwerden.
Sie dachte daran, dass es nun ihr Haus war. Deshalb wollte sie nach oben gehen und dort nachsehen, was diese Collins und dieser Sinclair taten.
Etwas störte sie.
Es war mehr ein Gefühl, dass sich in der Nähe etwas Fremdes aufhalten konnte, was nicht in ihre Umgebung gehörte.
Hinter ihr…
Es wäre kein Problem gewesen, sich umzudrehen und nachzuschauen.
Das traute sich Mandy in diesem Augenblick nicht. Erst als ihr ein eigenartiger Geruch in die Nase stieg, fuhr sie herum - und wurde zur berühmten Salzsäule.
Im Zimmer standen zwei ihr fremde und mit Pistolen bewaffnete Männer…
***
Mandy Lester kannte die beiden Eindringlinge nicht, und die Waffen mit den aufgeschraubten Schalldämpfern trugen auch nicht dazu bei, ihre Angst zu mildern. Wer so auftrat, der wollte auch töten.
Die Unbekannten sahen aus wie Zwillinge, obwohl das nicht zutraf. Es lag mehr an der Kleidung, denn beide trugen dunkelgrüne Ledermäntel und Wollmützen auf den Köpfen. Die Eindringlinge hatten harte Gesichter mit kalten Augen.
Keiner von ihnen sprach. Sie ließen nur ihre Waffen sprechen.
Die ersten Sekunden hatte die Frau in einer Art Schockzustand erlebt.
Der wich nun. Sie versuchte, die Kontrolle über sich zurückzugewinnen, doch so ganz schaffte sie es nicht.
Ihre rechte Hand begann zu zittern, sodass sie die Flasche nicht mehr halten konnte. Sie landete auf dem Boden, zerbrach aber nicht, weil der Teppich den Aufprall dämpfte.
Die beiden Männer registrierten es, ohne mit der Wimper zu zucken. Nur ihre Augen bewegten sich. Sie schickten ihre Blicke hin und her, als suchten sie nach etwas Bestimmten.
Mandy Lester fragte sich, was die Typen von ihr wollten. Als normale Besucher waren sie nicht gekommen, da hätten sie nicht ihre Waffen zu ziehen brauchen. Sie dachte auch daran, dass sie nicht allein war, und Mandy nahm sich vor, ihre beiden Besucher nicht zu erwähnen.
Anscheinend wussten die Eindringlinge nichts von ihnen.
Es war wahrscheinlich, dass der Besuch nicht ihr galt, sondern ihrem toten Bruder. Er war schließlich nicht eines natürlichen Todes gestorben.
Man hatte ihn umgebracht. Möglicherweise hatten die beiden etwas damit zu tun.
Es machte ihr offenbar große Mühe, überhaupt ein Wort hervorzubringen. Dementsprechend leise hörte sich ihre Stimme an.
»Was wollen Sie?«
»Mit dir sprechen.«
Mandy hatte die Antwort gehört. Sie wusste allerdings nicht, wer von den beiden gesprochen hatte. Aber sie hatte am Klang der Stimme erkannt, woher der Sprecher stammte. Das hatte nach Osteuropa geklungen.
»Und worüber wollen Sie mit mir
Weitere Kostenlose Bücher