1605 - Blutnacht - Liebesnacht
verschwinden lassen.«
»Das können wir verstehen«, sagte ich. »Da sind wir noch rechtzeitig genug gekommen.«
»Wie meinen Sie das?«
Ich gab ihm keine Antwort. Stattdessen fragte ich: »Können wir Ihre Tochter sehen?«
Karl Seeger öffnete den Mund. Er wirkte in diesen Momenten überfordert, fand jedoch keine Antwort, die ihm passend erschienen wäre.
»Bitte«, sagte Dagmar leise.
»Und - und - dann?«
»Wir möchten Anja zunächst mal sehen. Wir helfen Ihnen auch dabei, den Sarg in die Scheune zu tragen.«
Seeger schloss die Augen. Er war vor eine Entscheidung gestellt worden, die ihm alles andere als leicht fiel. Unruhig bewegte er sich auf der Stelle, bis er schließlich nickte und flüsterte. »Ja, ich denke, dass es besser ist.«
»Genau das.« Ich lächelte ihn an. Für mich stand fest, dass ihn noch zahlreiche Fragen quälten. Er traute sich nur nicht, sie zu stellen. Ich übernahm die Initiative und fasste unter das Ende des Sarges, das den Erdboden berührte.
Es war das Startzeichen für Seeger. Auch er fasste mit an. Wir stöhnten beide unter der Last. Auch wenn der helle Sarg nicht so aussah, er war trotzdem recht schwer, und wir hatten unsere Mühe, ihn in die Scheune zu schleppen.
Vom Hellen ins Halbdunkle und dann ins Dunkle. Ich ging rückwärts und hatte im Rücken keine Augen, aber es lag zum Glück nichts im Weg, über das ich hätte stolpern können.
In der Scheune roch es nach feuchtem Holz und auch Getreide. Das zumindest glaubte ich.
Wir standen fast im Dunkeln, als Karl Seeger sein »Stopp!« flüsterte.
Beide waren wir froh, den Sarg auf den Boden stellen zu können. Auch Dagmar war mit in die Scheune gekommen und fragte nach Licht.
»Moment, ich drehe mal eine Lampe an.«
Karl Seeger bewegte sich als Schatten von uns weg. Er tauchte ab in die Dunkelheit und drehte an einer Birne, die von der Decke herabhing.
Licht breitete sich aus. Es erreichte auch die Stelle, an der wir standen.
Seeger kam wieder auf uns zu und wies auf die Rückwand der Scheune.
»Wir müssen dorthin.«
Wir ließen uns führen. Er blieb dort stehen, wo das Licht allmählich auslief. Trotzdem war für uns noch alles zu erkennen.
»Da liegt sie!«, erklärte Karl Seeger mit gepresster Stimme.
Wir schauten nach unten.
Dort lag die Blutsaugerin, die ihre Augen weit geöffnet hatte und uns gierig anstarrte…
***
Karl Seeger hatte seine Tochter auf Heu gebettet. Das hatte etwas Rührendes an sich, aber bei einer Blutsaugerin spielte es keine Rolle, wo sie lag. Sie befand sich in einem Zustand, in dem sie keinerlei Empfindungen mehr spürte. Es sei denn, man sah die Gier nach dem frischen Menschenblut als eine Empfindung.
»Das ist Anja…« Die Stimme des Mannes versagte.
Dagmar und ich schauten sie uns an. Und nicht nur meine Begleiterin wurde von einem Schauer erfasst, auch mir rann es kalt den Rücken hinab, denn ich wusste, wie so etwas enden musste.
Der Mund war verzogen, die Zähne gefletscht. So hatte das eigentlich hübsche Gesicht einen völlig fremden und verzerrten Ausdruck angenommen.
Der Vater hatte Stricke um den Körper gewickelt. Wären sie nicht gewesen, sie hätte uns sofort angegriffen, aber die Stricke waren eng geschnürt und reichten von den Knöcheln bis zum Hals.
Trotzdem fing sie an, sich zu bewegen. Sie rollte sich leicht nach rechts, dann wieder nach links, und aus ihrer Kehle drang dabei ein Fauchen, das mehr zu einem Tier gepasst hätte.
»Ich habe schon befürchtet, dass sich Anja befreien könnte«, murmelte Seeger.
»Die Fesselung ist okay«, beruhigte ich ihn.
»Danke.« Er hatte Mühe, seine väterlichen Gefühle zu unterdrücken.
Trotzdem musste er über seine Augen wischen. »Ich habe alles getan, das können Sie mir glauben. Ich habe für Anja gebetet aber ich weiß, dass es zu spät gewesen ist. Aber jetzt möchte ich wissen, wie es weitergeht. Kann ich Sie als Fachleute ansehen?«
»Das können Sie«, sagte ich.
»Und was schlagen Sie vor?«
Ich war ehrlich, ich musste es sein. »Die Idee mit dem Sarg ist nicht mal schlecht, Herr Seeger«, begann ich.
»Dann wollen Sie sich daran halten?«
»Das denke ich.« Die nächsten Worte fielen mir schwer. »Nur anders, als Sie es sich vorgestellt haben.«
Er zögerte mit seiner Frage, stellte sie dann doch. »Was soll das bedeuten?«
»Wir müssen sie erlösen!«
Seeger duckte sich. Er schrak zusammen, und es traf ihn noch härter, als er die Reaktion seiner Tochter vernahm.
»Ich bin ausgehungert.
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