Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
1610 03 - Soehne der Zeit

1610 03 - Soehne der Zeit

Titel: 1610 03 - Soehne der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Gentle
Vom Netzwerk:
bewusstlosen Fludd hinunterblickte.
    Nun muss ich entscheiden, wie ich den Mann einsetzen will, der – mit genügend Zeit – vorauszusagen vermag, welchen Lauf die Dinge nehmen.
    Gabriel Santon brachte einen kleinen, älteren Mann vom Vorderkastell, der Doktor Fludd mit einem scheinbar sorglosen Ruck den Arm wieder einrenkte.
    Mit der Begründung, die ›Unfallverletzung‹ müsse heilen, schloss ich Fludd in Darioles Kabine ein, während Dariole sich auf Deck unter den Sternenhimmel legte und erst einmal ausschlief. Wenn Gabriel und ich uns mit dem Schlafen abwechseln würden, würden wir Fludd – und Mademoiselle Dariole – abwechselnd bewachen können.
    »Sag ihr nicht, dass wir sie im Auge behalten«, flüsterte Gabriel bei einem Wachwechsel. »Gott allein weiß, was sie uns dann antun würde.«
    »Es gibt viel, worüber sie nachdenken muss«, erwiderte ich. »Sie hat sich noch nicht an den Gedanken gewöhnt, Fludd nicht getötet zu haben.«
    Die Santa Theodora fuhr in die Mündung des Madovi ein und weiter flussaufwärts, bis wir unser Ziel erreichten: Goa.
    Die Westküste von Hind gefiel mir mit ihrer Üppigkeit. Tief in meinem Herzen bin ich vielleicht ein Wanderer. Ich besorgte uns eine Unterkunft in der neugebauten Basilika des Menschgewordenen Jesus und schloss Fludd ein, wann immer wir ausgingen – Fludds langsame Erholung von seinen Verletzungen machte ihn jedoch ohnehin zu einem Einsiedler.
    Generell hielt ich es jedoch für klug, uns zurückzuhalten. Immerhin befanden wir uns in einer portugiesischen Kolonie. Man weiß nie, wie spanische Agenten auf einen Engländer reagieren – oder auf einen Franzosen.
    Ich begann, nach einem Schiff zu suchen, das uns weiter nach Westen bringen würde. Ansonsten übte ich mich in Geduld, und am vierten Tag nach unserer Ankunft in Goa hielt ich die Zeit für gekommen.
    »›Quen vim Goa excuse de ver Lisbon‹«, bemerkte ich. »Wer Goa gesehen hat, braucht Lissabon nicht mehr zu sehen.«
    Eine Hand auf dem Heft des Rapiers schaute Mademoiselle Dariole sich auf dem Kathedralenplatz um und hob die Augenbrauen. Ihre Lippen zuckten bei dem unbeholfenen Versuch eines Lächelns. »An die Dinger kann ich mich aber nicht aus Lissabon erinnern …«
    Mir war nicht ganz klar, ob sie sich damit auf die seltsamen Bäume mit den federartigen Blättern bezog, welche den Platz umgaben, oder auf die Papageien, Tauben und Eidechsen, von denen es überall nur so wimmelte.
    Nachdem sie sich vor unserer Ankunft in Goa wieder darauf verlegt hatte, Wams und Hose zu tragen, hatte Mademoiselle Dariole aufgrund der schwülen Hitze nun wieder zu kosode und hakama gewechselt. Wie in Lissabon so konnte man auch hier zwischen Mittag und vier Uhr kaum vor die Tür gehen. Ich wünschte mir nichts sehnlicher herbei als den Abend, wenn es wieder kühler wurde – und wenn die Flut kam.
    Ich mied die bunt und seltsam gekleideten Menschen, um potentiellen Lauschern aus dem Weg zu gehen, und führte Dariole in die Basilika – mehr um der Kühle innerhalb der barocken Mauern willen als um religiösen Beistand zu suchen. Der weiße Marmor der Seitenkapellen war genauso reich mit Blattgold verziert wie jede Kirche in Lissabon; doch dank der unterschiedlichen Hindsprachen und des Arabischen, die ich von den Gläubigen hörte, strahlte der Ort eine faszinierende Fremdartigkeit aus.
    Ich kniete in einer der Seitenkapellen.
    »Seid Ihr zufrieden?«, fragte ich.
    Mademoiselle Dariole ließ sich neben mir nieder und blickte zu den Kerzen und dem porzellanweißen Gesicht der Muttergottes empor.
    »Ich wollte ihm wehtun.« Ihre Stimme durchbrach die heiße Stille. »Es ist schrecklich.«
    »Ja«, sagte ich.
    »Und es ist, als hätte jemand eine große Last von meinen Schultern genommen.«
    »Ja. Auch das kenne ich.«
    »Ist das immer so? Und hätte ich mich noch schlimmer gefühlt, wenn ich ihn getötet hätte?«
    »Ich würde Euch seinen Tod noch immer nicht geben«, sagte ich. »Warum werde ich Euch in einem Augenblick erklären. Nun geht es Euch ja gut genug, um es zu hören.«
    Sie ignorierte mich. Ihre Hände zitterten, als sie sie zum Gebet faltete. »Ich wollte nicht … mit ihm spielen.«
    In den Schatten der Kathedrale wirkten ihre Augen groß und dunkel.
    »Ihr meint, solche Spiele gehören in die Nacht«, sagte ich, »nicht ans Tageslicht.«
    Der Geruch von Weihrauch und Kerzen, den man von Kindesbeinen an kennt, wirkt seltsam, wenn er sich mit dem Duft der Gewürze und Blumen von Goa vermischt.

Weitere Kostenlose Bücher