1622 - Sie kamen aus der Totenwelt
Norton wohnte. Sie lebte nicht in der Stadt direkt, sondern am Rand, wo einige neue Häuser gebaut worden waren, nicht weit von den Hängen entfernt, auf denen der Wein wuchs und auf einen warmen Sommer wartete.
Harry hatte vor seiner Fahrt noch mal zurückgerufen und hatte die Erleichterung in Paula Nortons Stimme nicht überhört. Sie freute sich auf seinen Besuch.
Er fand vor dem Haus einen freien Stellplatz für seinen neuen Wagen.
Es war wieder ein Opel, diesmal ein Insignia.
Dagmar Hansen war mit der Nachbarin einkaufen gefahren, und sie hatten auch keine Zeit ausgemacht, wann sie sich treffen wollten.
Allerdings wollten sie den Abend gemeinsam verbringen.
Harry stieg aus. Er schaute an der sehr sauberen Fassade hoch, ging auf die gläserne Haustür zu, in der sich das Licht der Sonne spiegelte.
Den Namen Norton fand er auf dem obersten Klingelschild. Harry drückte den Knopf der Klingel und hörte kurze Zeit später die Frauenstimme aus der Sprechanlage.
»Wer ist dort?«
»Harry Stahl.«
»Ah ja, gut. Ich öffne.«
»Danke.«
Während des Summens drückte Harry die Haustür nach innen und betrat den kühlen Flur, der ebenfalls sehr sauber war. Es gab keinen Lift. In der vierten Etage erwartete ihn Paula Norton vor der offenen Wohnungstür.
Sie trug einen rostroten Pullover und dazu eine schwarze Hose. Auf ihrem Kopf wuchsen graue Haare, die sie glatt an den Seiten nach unten gekämmt hatte. Die Mitte des Lebens hatte sie bereits erreicht, und es war ihrem Gesichtsausdruck anzusehen, dass sie unter starkem Kummer litt.
Harry reichte ihr die Hand. Er hatte die Frau zwar auf der Beerdigung gesehen, konnte sich aber nicht mehr an sie erinnern. Auch jetzt kam sie ihm fremd vor.
»Ich bin ja so froh, dass Sie gekommen sind, Herr Stahl. Bitte, treten Sie ein.«
»Danke.«
»Möchten Sie eine Erfrischung? Ich habe einen selbst gepressten und sehr schmackhaften Apfelsaft.«
»Da wäre ich nicht abgeneigt.«
»Er steht schon bereit.«
Wenig später betraten die beiden ein Wohnzimmer mit einer recht breiten Dachgaube, durch deren Fenster man einen prächtigen Blick auf die nahen Weinberge hatte.
»Schön wohnen Sie hier.«
Paula Norton lachte. »Ja, da stimme ich Ihnen zu. Was im Haus fehlt, das ist der Lift. Schleppen Sie mal Getränke oder schwere Tüten hoch. Aber so bleibt man fit.«
Dann deutete sie auf einen der beiden Sessel, die mit einem hellblauen Stoff bezogen waren. Ein quadratischer Holztisch mit einer Glasplatte war ebenfalls vorhanden, und darauf standen zwei Gläser und die Flasche mit dem naturtrüben Saft, aus der sich Harry gern bediente.
Auch Frau Norton trank. Als sie das Glas abstellte, schluckte sie und schüttelte zugleich den Kopf.
»Ich kann es noch immer nicht begreifen, Herr Stahl. Es ist für mich einfach verrückt und noch immer nicht zu fassen. Da fliegt ein Vogel zur mir und bringt eine Botschaft von meinem getöteten Sohn.«
»Was war das für ein Vogel?«
»Ein Rabe.«
»Aha.«
Sie schaute hoch. »Wieso? Bedeutet das etwas für Sie?«
»Nein, nein, das ist schon okay. Ich wollte nur wissen, was es für ein Vogel war.«
Paula Norton drehte sich so, dass sie zum Fenster schauen konnte.
»Zuerst flatterte er dort herum. Dann hackte er mit dem Schnabel gegen die Scheibe. Ich war durcheinander. Ich weiß jetzt nicht mal mehr, ob ich ihm das Fenster geöffnet habe oder ob es schon offen gewesen ist. Jedenfalls flog er in die Wohnung und brachte die Nachricht, die er in seinem Schnabel gehalten hatte. Nur ein zusammengefaltetes Blatt Papier.«
»Kann ich es mal sehen?«
»Gewiss, warten Sie.« Die Frau drehte sich etwas auf ihrem Sessel um, damit sie in eine der beiden hinteren Hosentaschen greifen konnte. Sie holte die Botschaft hervor, glättete das Papier und schob es ihrem Besucher hinüber.
Harry las. Er fühlte schon eine gewisse Spannung in sich, wenn er daran dachte, dass diese Botschaft von einem Toten stammte, wobei nicht nachzuvollziehen war, dass Michael Norton es als Leiche geschrieben haben könnte.
»Liebe Mutter! Du musst dir keine Sorgen machen, denn dort, wo ich jetzt bin, geht es mir gut. Dein Michael…«
Das war der Text der Botschaft, den Harry noch zweimal las, aber nichts herausfand, was ihn weitergebracht hätte. Er hörte, dass Paula Norton die Nase hochzog und über ihre Augen wischte, weil sie zu stark erregt worden war.
Hastig trank sie einen Schluck und fragte: »Warum sagen Sie nichts, Herr Stahl?«
Harry legte den Zettel
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