1648 - Geister der Vergangenheit
Gespenster gesehen, und zwar Wesen, die nur für ihn sichtbar waren.
Auf entsprechende Fragen hatte er keine Antworten gegeben und Martine immer nur beruhigt.
»Alles ist in Ordnung, Cherie, alles. Du wirst sehen.«
Nichts war mehr in Ordnung, auch jetzt nicht. Nach außen hin vielleicht, nicht aber nach innen. Nach wie vor gingen beide durch ihre eigenen Höllen, aber sie sprachen nicht darüber, weil die Dinge noch zu sehr in der Schwebe hingen.
Marc war gegangen. Er hatte sich wieder in seinen Job gestürzt. Er machte weiter, er lenkte sich ab, aber eine bestimmte Sache ging ihm nicht mehr aus dem Kopf.
Das kleine Haus kam ihr plötzlich so leer vor. Martine hatte sich in den Räumen stets wohl gefühlt. Das war nun vorbei. Zu tief saß das Erlebte. Es fehlte ihre Tochter, und sie selbst dachte darüber nach, das Haus zu verkaufen und weg aus Paris zu ziehen.
Mit ihrem Mann hatte sie darüber noch nicht gesprochen, aber sie würde es irgendwann tun.
Über die Stufen der weiß lackierten Treppe ging die Frau in die erste Etage und betrat das Bad. Sie stellte sich vor den Spiegel, dann wusch sie ihr Gesicht, trocknete es ab, schaute sich wieder an und stellte fest, dass sie alt aussah. Das war erst in den letzten Wochen geschehen. Das Leben hatte eben seine Spuren hinterlassen.
Erneut lag der Druck in ihrem Magen. Sie bekam ihn einfach nicht weg. Tabletten wollte sie auch nicht nehmen. Bei einer Bekannten hatte sie gesehen, wohin das führte. So etwas konnte in einer schrecklichen Abhängigkeit enden.
Martine verließ das Bad und betrat den engen Flur. Schräg gegenüber lag das Zimmer ihrer Tochter. Sie betrat es nicht. Da war alles so gelassen worden wie immer, doch sie schaffte es nicht, sich zu überwinden.
Dafür hörte sie den Aufprall!
Martine Duras stand im Flur. Sie wusste, dass sie sich nicht getäuscht hatte. Unter ihr hatte es einen Aufprall gegeben, als hätte jemand etwas umgestoßen.
Aber es war niemand im Haus, abgesehen von ihr.
Es war ein Augenblick, in dem ihr Herz schneller anfing zu klopfen. Ihre Blicke waren starr geworden, die Bewegungen eingefroren, hinter der Stirn verspürte sie einen leichten Druck.
Normalerweise hätte sie sich bei einem derartigen Geräusch nicht viel gedacht. Hier sah es anders aus. Sie war allein im Haus, dachte auch an die Vergangenheit - und schrak zusammen, als etwas klirrte.
Jetzt wusste sie Bescheid. Das Geräusch war aus der Küche gekommen. Als wäre dort ein Teller abgerutscht und auf dem Boden gelandet.
Bleiben oder nach unten gehen?
Es gab nur die beiden Möglichkeiten. Aus dem Fenster konnte sie nicht springen oder nur im Notfall.
Martine Duras war völlig durcheinander. Das Gefühl, nicht mehr allein zu sein, verstärkte sich von Sekunde zu Sekunde. So sah sie sich in ihrem eigenen Haus wie in einer Falle. Vielleicht war es gut, wenn sie es schaffte, sich zu verstecken. Es gab hier oben noch einen kleinen Raum, der als Wäschekammer diente.
Die Entscheidung wurde ihr abgenommen. Etwas war hinter ihr. Es lauerte dort, sie spürte es genau, aber sie traute sich nicht, auf der Stelle kehrtzumachen.
Etwas streifte sie. Es war kalt, es war so ungewöhnlich, und dann hörte sie tatsächlich das Flüstern.
»Wir sind hier, wir kriegen dich. Mitgefangen, mit gehangen. Dich und deinen Mann…«
Es war der Punkt, an dem sie etwas tun musste. Sie fuhr herum - und erlebte einen Schock.
Vor ihr stand etwas, das sie nicht begreifen konnte, und sie hatte das Gefühl, sich in einem Film zu befinden.
Zwei schaurige Wesen starrten sie an!
Gespenster!
Dieser Gedanke schoss ihr durch den Kopf.
Gespenster oder Geister, denn normale Menschen waren es nicht, gegen die sie schaute. Bleiche Wesen, nicht als neblig zu beschreiben und trotzdem nicht so weit davon entfernt. Die menschlichen Umrisse waren schon vorhanden, aber nicht fest. Sie hätte nicht hinfassen und sie festhalten können. Gesichter, die es gab, die trotzdem keine waren.
Sie sahen einfach nur blass aus, und die Farbe erinnerte an ein helles Grau.
Zwei sah sie vor sich, und diese beiden strömten auch die Kälte aus, die Martine zuerst gespürt hatte und die so etwas wie eine Warnung gewesen war.
Nichts bewegte sich vor ihr. Dennoch sah sie diese beiden als ein Drohgebilde an.
Böse, abweisend, kalt, nicht in diese Welt gehörend. Das wusste sie sofort, ohne etwas dagegen unternehmen zu können. Der Anblick hatte sie starr werden lassen, und diese Starre würde auch weiterhin
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