1648 - Geister der Vergangenheit
gelang.
»Warum hat er das getan? Warum hat er geschossen? Einfach so? Ist er zu euch gekommen und hat euch hingerichtet, weil es ihm Spaß gemacht hat? War das so…?«
Die beiden unheimlichen Besucher reagierten zunächst nicht. Nach einer Weile hörte Martine eine Frage.
»Weißt du es wirklich nicht?«
»Nein.«
Sie hörte ein Kichern, dann wieder die Stimmen. »Wir sagen es ihr. Ja, wir sagen es ihr. Keine Sorge, du erfährst schon noch die Wahrheit. Er steckte voller Hass gegen uns. Er hat uns gesucht. Er hat uns verfolgt und auch gefunden, und dann hat er zugeschlagen. Seine Tochter hatte er nicht mehr retten können - eine andere Person schon, die wir…«
Martine hörte nicht mehr hin. Über ihre Ohren schien sich ein Vorhang aus Watte gelegt zu haben. Aber sie war nicht dumm, sie hatte begriffen. Vor ihr standen die Geistleiber von zwei Mördern, die am Tod ihrer Tochter beteiligt gewesen waren.
Marc hatte es herausgefunden, und er war seinen eigenen Weg gegangen, um die Gerechtigkeit durchzuziehen, die für ihn wichtig gewesen war.
Er hatte sich die Mörder seiner Tochter vor die Mündung geholt und kurzen Prozess gemacht.
Martine Duras war nicht mehr in der Lage, etwas zu sagen. Ihre Kehle war zu. Was sie gehört und worüber sie nachgedacht hatte, war einfach ungeheuerlich. Und etwas anderes war noch viel schlimmer. Es überschwemmte ihren gesamten Denkapparat.
Sie haben Chiara ermordet! Sie haben ihr das Herz aus dem Leib gerissen und sie weggeworfen wie Abfall!
Und plötzlich verstand sie ihren Mann. Ja, sie konnte nachvollziehen, dass er sich auf die Mördersuche gemacht und die verdammten Verbrecher getötet hatte.
Diese Gefühle, die Martine durchtosten, waren so wild, dass sie gar nicht mehr daran dachte, wen sie vor sich hatte. Sie fühlte sich stark, auch wenn sie keinen Angriff wagte. Ihre Haltung sah so aus, als würde sie es tun.
»Ihr habt es nicht anders verdient!«, schrie sie. »Ich kann meinen Mann verstehen. Ich hätte nicht anders gehandelt. Ich hätte euch auch vor meine Mündung geholt und gekillt. Ihr habt uns das Liebste genommen, was wir hatten. Chiara war noch so jung, so verflucht jung. Sie hatte ihr Leben noch vor sich und…«
»Das hatten wir auch!« Zu zweit hatten sie gesprochen und eine Antwort gegeben.
Martines Mund klappte wieder zu. Sie atmete durch die Nase, und sie wusste, dass sie trotz allem verloren hatte. Diese Geister würden keine Gnade kennen und sie töten.
Denn sie stand auf der Seite ihres Mannes und würde diesen Platz nie verlassen.
Sie wollte reden, und ihr Gesicht verzog sich dabei. »Ich - ich - freue mich, dass ihr eure Strafe bekommen habt. Mein Mann handelte richtig. Ihr seid die Mörder unserer Tochter. Ihr habt ihr sogar das Herz aus dem Leib gerissen…«
Es war für sie furchtbar gewesen, das schreien zu müssen. Und ihre Stimme hatte sich dabei überschlagen. Wären die beiden normale Menschen gewesen, sie hätte sich jetzt auf die gestürzt, aber das waren sie ja nicht.
Sie waren Geister - feinstofflich und nicht zu fassen.
Ein grenzenloser Hass überschwemmte die Frau. Martine fühlte sich jetzt wie ein Tier, das in der Falle steckte. Sie musste etwas tun. Wenn nicht, wurde sie noch verrückt und erstickte fast an ihren Emotionen.
Ein Schrei löste sich aus ihrem Mund. Er war so etwas wie ein Startsignal, aber sie griff diese beiden Gestalten nicht an, weil es nichts brachte, sie dachte nur an Flucht und warf sich auf dem Absatz herum, denn dieses Haus war für sie zu einem Gefängnis geworden. Sie musste hinaus, sie wollte um Hilfe schreien und setzte darauf, dass die Geister verschwanden, wenn sie es schaffte, auf die Straße zu gelangen.
Jetzt lag die Treppe vor ihr. Nicht nur die Angst trieb sie an, auch die beiden feinstoffiegen Gestalten, die ihren Tod wollten. Sie musste einfach schneller sein und vor ihnen die Haustür erreichen.
Martine stolperte über die Stufen. Sie hatte das Gefühl, immer daneben zu treten, sah die eigenen Beine kaum, hielt sich am Geländer fest, gab sich Schwung, prallte unglücklich auf einer Kante auf - und brach zusammen.
Zum Glück hatte sie die Treppe schon fast hinter sich gelassen. So fiel sie nicht mehr auf die Stufenkanten, sondern landete vor der Treppe auf dem Boden.
Der Schwung hätte sie auf den Bauch und auf das Gesicht geschleudert, ihre Arme schnellten vor, und so stützte sie sich ab. Sie fiel trotzdem, tat sich nicht weh, raffte sich wieder auf, lief weiter und fiel
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