1661
Persönlichkeiten königlichen Bluts vorbehalten war, aber jeder begriff, dass der König seinem Paten damit seine hohe Wertschätzung bezeigen wollte. Und die Bewohner der Hauptstadt waren dem Ruf der Priester gefolgt. Zwar war Mazarin bei den Parisern nicht sonderlich beliebt, nicht zuletzt wegen seiner ausländischen Wurzeln und dem fragwürdigen Ursprung seines Vermögens, doch hatten sie nicht vergessen, dass ihm der Friedensschluss mit Spanien zu verdanken war, und wollten seinem entschiedenen Wirken für die Einheit des Landes Anerkennung zollen.
Da er sich von der religiösen Inbrunst und Traurigkeit angezogen fühlte, hatte sich Gabriel zu den Gläubigen in Saint-Roch gesellt. Einige Stunden zuvor hatte ihn die junge Wäscherinin seiner Kammer aufgesucht und ihm besorgt berichtet, dass in der Rue des Lions Saint-Paul seit Tagen Fremde herumschlichen und Gabriels Kommen und Gehen beobachteten, was tiefes Unbehagen in ihm hervorgerufen hatte. Ich kann hier nicht untätig herumsitzen und darauf warten, dass meine Verfolger zur Tat schreiten, dachte er und hatte die granatfarbene Ledermappe versteckt, um draußen erst einmal frische Luft zu schnappen. Glücklich, in der von geistlichen Gesängen erfüllten Kirche endlich einen Ort gefunden zu haben, wo er in Ruhe nachdenken konnte, kniete er nun inmitten der Gläubigen und grübelte erneut über die rätselhaften Schriftstücke. Die Unterschrift seines Vaters machte aus den Papieren ein kostbares Bindeglied zu einer Vergangenheit, die ihm bisher verschlossen geblieben war. Gabriel hatte seinen Vater kaum gekannt. Seine Mutter hatte ihm erzählt, dass er auf einer Reise nach London gestorben sei, wohin er sich begeben hatte, um die Weinproduktion seiner Güter in der Touraine zu verkaufen. Da er damals erst fünf Jahre alt gewesen war, hatte Gabriel nur noch bruchstückhafte Erinnerungen an den Mann, der ihm während seiner Kindheit und Jugend so sehr gefehlt hatte. Daher beschloss er nun, die Papiere nicht aus der Hand zu geben, selbst wenn sein Leben davon abhinge. Er wollte ihr Geheimnis um jeden Preis lüften und erfahren, wie sein toter Vater in das Rätsel verwickelt sein konnte, das so viele Leute zu interessieren schien. Ich muss herausfinden, was in den Dokumenten steht, dachte er. Ich brauche unbedingt jemanden, der sie mir entschlüsseln kann. Doch sosehr er sich auch darüber den Kopf zerbrach, ihm fiel niemand ein, der ihm helfen konnte. Es sei denn …, kam es ihm plötzlich in den Sinn, als die Andacht gerade zu Ende war. Entschlossen bekreuzigte er sich und wandte sich zum Ausgang.
Auf dem Kirchenvorplatz musste Gabriel seine Ellenbogen gebrauchen, um sich einen Weg mitten durch die Menschenmengedie Stufen hinab zu bahnen. Kaum stand er jedoch unten auf der Straße, packte ihn eine Hand. Als er sich umdrehte, erkannte er das mit einem Verband bedeckte Gesicht des Schurken wieder, den er im Theater bewusstlos geschlagen hatte, um das Leben des alten Concierges zu retten. Blitzschnell entwand sich Gabriel dem eisernen Griff und flüchtete. Den geschwinden Schritten nach zu schließen, waren ihm mindestens zwei Verfolger auf den Fersen. So schnell er konnte, schlängelte er sich zwischen all den Verkäufern von Milch, Gemüse, Sand, Lumpen und tausend anderen Dingen hindurch, welche die engen Gassen von Paris verstopften. Wohin?, fragte er sich. Auf keinen Fall zu mir nach Hause, wo sicher die Polizei auf mich wartet. Louise! Ich werde Louise aufsuchen! Dort bin ich in Sicherheit.
Zehn Minuten später klopfte er keuchend an den Hintereingang des Palais von Philipp von Orléans, dem Bruder des Königs, und rannte kurz darauf die Treppe zu Louise de La Vallières Gemächern hinauf.
»Louise, ich bin es, Gabriel! Macht auf! Schnell!«
»Gabriel! Was ist denn passiert?«, rief Louise de La Vallière erstaunt, als sie ihrem Freund die Tür geöffnet hatte und ihn mit hochrotem Kopf vor sich stehen sah. Aus ihren hastig hochgesteckten blonden Haaren hatten sich ein paar Locken gelöst, die ihr ins Gesicht fielen. »Ich war gerade dabei, mich für das Abendessen fertig zu machen. Was ist los? Ihr seid ja völlig außer Atem!«
»Ich erkläre … es Euch … gleich, aber lasst … mich erst … rein«, antwortete er schnaufend und stürzte an ihr vorbei.
Louises Gemächer, die mit kostbaren Wandteppichen in lebhaften Farben dekoriert waren, strahlten wohltuende Ruhe aus. Während Gabriel allmählich wieder zu Atem kam, sah er sich
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