1661
Baum verborgen, sah er mit Befriedigung, dass François d’Orbay endlich aus dem Laubwerk auftauchte. Beinahe pünktlich, dachte er. Er folgte d’Orbay, als dieser die kleine Holzbrücke über den am Friedhof entlangfließenden Bach passierte, und beobachtete, wie sein früherer Schüler sich seinem Ziel näherte, mal entschiedenen Schritts, mal zögerlich. Er lächelte, als er ihn die Augenbrauen runzeln sah, während er nach dem Baum Ausschau hielt, den man ihm beschrieben hatte, und ging leise hinter ihm her.
François d’Orbay hielt inne und betrachtete die Trauerweiden. Er beugte sich herab, um die Inschrift auf einem Grabstein zu entziffern, als hinter ihm eine Stimme erklang. Er drehte sich um.
»Das ist das Grab von John Donne. Ich liebe seine Gedichte, und ich gehe hier gern spazieren. Selbst wenn es früh am Morgen ist und das Wetter nicht gerade einladend …«
Der Akzent war derselbe, auch der ein wenig schleppende Tonfall. D’Orbay trat vor und schloss den Mann in seine Arme.
»Lasst mich Euch ansehen«, sagte dieser und trat etwas zurück, wobei er seine ausgestreckten Arme weiter auf François’Schultern ruhen ließ. »Ihr habt noch immer die Augen eines Kindes. Aber da sind ein paar kleine Falten, und in Euren Augen ist ein Ausdruck von Härte, den ich nicht an Euch kenne.«
Von Rührung überwältigt, brachte François d’Orbay kein Wort hervor. Wie alt er geworden ist, dachte er, als er seinen Blick über die weißen Haare, die fast durchscheinende Haut und die abgemagerten Züge schweifen ließ. Sogar die blauen Augen, die in dem von Erschöpfung gezeichneten Gesicht größer erschienen, erstrahlten nicht mehr in demselben Glanz, als hätte sich alles Leben, das noch in dem alten Mann steckte, in den großen, ausgemergelten Körper geflüchtet, um einen letzten Kampf auszufechten.
Es war André, der das Schweigen brach.
»Kommt, François, gehen wir ein Stück; es fällt mir zwar nicht leicht, mich zu bewegen, aber ich stehe nicht gern herum.« Als d’Orbay aus dem Augenwinkel sein schmerzverzerrtes Gesicht bemerkte, fügte er mit düsterer Stimme hinzu: »Das ist immer noch nicht in Ordnung.« Er deutete auf sein steifes rechtes Bein, das die Ursache seiner Schmerzen zu sein schien.
Sie gingen langsam am Bach entlang. Die Sicht war jetzt etwas besser, doch d’Orbay hatte das Gefühl, neben einem Schatten herzuwandern. Nur der schwere Atem des alten Mannes ließ ahnen, dass er an seiner Seite ging.
»Kennt Ihr diese Verse von John Donne, François:
That ’tis in vaine to dew, or mollifie it with thy Teares, or Sweat, or Blood
…? Manchmal habe ich den Eindruck, dass er sie für mich geschrieben hat.«
André de Pontbriand blieb nun vor der mächtigen Abtei stehen. Er war fast unsichtbar, es schien, als würden nur seine blauen Augen die Nebelwand durchdringen.
»Fünfzehn Jahre, François, seit fünfzehn Jahren lebe ich wieeine Ratte, fünfzehn Jahre lang habe ich meine Familie nicht gesehen, meine Frau und Kinder nicht in die Arme geschlossen. Seit fünfzehn Jahren vegetiere ich wie jemand, den die Angst umtreibt, er könnte seine Brüder verraten. Seit fünfzehn Jahren werfe ich mir vor, dass ich unsere Sache in Gefahr gebracht und mein Leben gerettet habe, ohne den Schaden wiedergutzumachen, den ich angerichtet habe.«
Als er sich zu François umdrehte, sah dieser Fieber in seinen Augen.
»Seid Ihr nicht neugierig? Ich habe mein Leben gerettet, doch nur, um wie ein Toter zu leben, versteckt und nichtsnutzig. Nur manchmal damit beschäftigt, Kinder wie Euch zu unterrichten, damals, die ich dann nie wiedersehe … Und das alles, damit unsere Projekte misslingen, eins nach dem andern«, entrüstete er sich, »so wie es auch hier in England der Fall war!«
»Die Voraussetzungen waren, wie sich herausgestellt hat, alles andere als günstig«, erwiderte d’Orbay. »Die Männer waren nicht geeignet, zu zerstritten, zu ehrgeizig.«
André de Pontbriand winkte ab. »Sagt das nicht mir, ich bitte Euch. Ich kenne die Wahrheit, warum sollte ich mich selbst darüber hinwegtäuschen? Die Unseren haben geglaubt, es genüge, einen König zu beseitigen, um die Tyrannei zu zerschlagen und den Lauf der Dinge, das Schicksal eines Landes zu verändern. Nur dass es zu nichts geführt hat, den König von England zu töten, denn er hatte einen Sohn und Anhänger, die überlebt haben, schlimmer noch, denen sein Tod Ansporn war, die Revolution zu bekämpfen. Und wisst Ihr, warum sie am
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