1684 - So grausam ist die Angst
anderen nicht ankam. Er war ihr über. Er brauchte nichts zu tun, einfach nur dazustehen und so seine Macht zu zeigen.
»Gehen Sie! Hauen Sie ab! Verschwinden Sie aus meinem Blickfeld. Ich will Sie nie mehr sehen! Nie mehr!«
Ihre Stimme hatte sich gesteigert und die letzten Worte hatte sie in das Gelächter des Schamanen gesprochen. Es tat ihr weh. Sie wollte nicht ausgelacht werden, weil sie es ernst meinte. Er aber kümmerte sich nicht um ihre Probleme. Er lachte weiter, aber urplötzlich hörte das Lachen auf. Sein Gesicht zeigte einen anderen Ausdruck. Es klappte förmlich zusammen, und das hatte einen Grund.
Rosy sah ihn nicht, sie hörte ihn nur, denn hinter ihrem Rücken klang eine Stimme auf.
»Kann ich Ihnen helfen?«
***
Im nächsten Moment schien die Zeit für sie stillzustehen. Sie rührte sich nicht vom Fleck, und genau das wollte ich auch. Meine Frage hatte sie erschreckt, was ich nicht beabsichtigt hatte.
Ich war nicht grundlos zu ihr gegangen. Schon eine ganze Weile hatte ich das so unterschiedliche Paar beobachtet. Es war zu erkennen gewesen, wer in diesem Fall das Sagen hatte. Ich war auch recht nahe an die beiden herangekommen, denn eine Buschgruppe hatte mir den entsprechenden Schutz geboten.
Der Schamane war schon eine mächtige Gestalt. Allein durch seine Körpergröße und sein Auftreten erzeugte er Respekt oder auch das Gefühl einer gewissen Angst. Er hielt die Fäden in den Händen. Er setzte das durch, was er wollte. Um gegen ihn anzukommen musste man verdammt stark sein.
Ich hatte die Warnung meines Kreuzes nicht vergessen und hatte ihr einfach auf den Grund gehen müssen, und so war ich hier an diese Stelle gelangt.
Es dauerte etwas, bis sich die junge Frau wieder gefangen hatte. Weiterhin stand ich hinter ihr und dachte darüber nach, warum mich das Kreuz jetzt nicht mehr warnte, obwohl ich nahe an diesem wirklichen Ziel stand. Das war im Augenblick zweitrangig, weil sich die Frau langsam umdrehte. Sie wollte sehen, wer sie angesprochen hatte, und schaute in mein lächelndes Gesicht.
Dass sie eine Frage stellen wollte, sah ich ihr an. Sie öffnete auch den Mund, aber da kam ich ihr zuvor und sagte mit leiser Stimme: »Sie brauchen keine Angst zu haben. Hat dieser Mann Sie hier auf dem Friedhof belästigt?«
Auf diese Frage war sie nicht vorbereitet. Ihr Blick pendelte zwischen dem Schamanen und mir hin und her. Sie suchte nach einer Antwort, und mir kam dabei der Gedanke, dass sie nichts falsch machen wollte.
»Weiß nicht.«
»Kennen Sie ihn?«
»Nein, ja, nein – ich habe ihn auf der Beerdigung zum ersten Mal gesehen, das ist wahr und …« Ihr fielen keine anderen Worte mehr ein. Sie senkte den Kopf und hob die Schultern.
Ich hatte den Eindruck, dass sich die Frau allmählich entspannte, und wandte mich an den Mann mit den langen Haaren und dem scharfkantigen Gesicht. Der Blick seiner Augen war eisig, die Lippen lagen aufeinander. Seine Haut hatte eine andere Farbe, und es kam mir vor, als würde sie einen metallischen Glanz abgeben, der von einem leicht violetten Schimmer begleitet wurde. Wer unvorbereitet auf ihn traf, der konnte sich leicht vor ihm fürchten.
Warum hatte mein Kreuz sich diesmal nicht gemeldet? Mit dieser Frage beschäftigte ich mich, obwohl aus meinem Mund eine andere drang, die an ihn gerichtet war.
»Wer sind Sie?«
Seine Lippen zuckten, als er lächelte. »Wer will das wissen?«
Ich lächelte zurück. »Gut, ich sage Ihnen meinen Namen. Ich heiße John Sinclair.«
»Und was wollen Sie von mir?«
Zu Hilfe kam mir die junge Frau. »Das ist Darco Uvalde. Jemand nannte mir seinen Namen.«
»Sie hat recht.«
»Danke.« Ich dachte über den Namen nach, der sich schon ungewöhnlich anhörte. Er passte zu dieser Gestalt, und ich stellte meine nächste Frage.
»Kannten Sie die Person, die beerdigt wurde?«
»Ich kenne viele Menschen.«
Von der Antwort ließ ich mich nicht beirren. »Aber sie waren bei ihrem Grab. Dort habe ich Sie gesehen, und ich bekam weiterhin mit, dass Sie ein Ritual durchgeführt haben, wobei ich davon ausgehe, dass es in die Welt der Schamanen gehört. Liege ich da richtig?«
Er deutete ein Nicken an. »Das ist gut beobachtet. Sie scheinen sich auszukennen.«
»Kaum.«
»Aber«, flüsterte er mir zu, »das Wenige müsste ausreichen, um Ihnen klarzumachen, dass man sich mit einem Schamanen nicht anlegen sollte. Ich für meinen Teil möchte keinen als Feind haben.« Mehr sagte er nicht, nickte uns zu, drehte sich um
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