1684 - So grausam ist die Angst
ineinander ein. Sie wurden zerfetzt und bildeten sich wieder neu, wobei sie unterschiedliche Grautöne präsentierten. Von dunkel bis sehr hell.
Etwas Kaltes fuhr an ihrem Gesicht vorbei. Rosy war so tief in ihre Gedankenwelt versunken gewesen, dass sie es kaum mitbekommen hatte. Erst beim zweiten Vorbeistreifen schrak sie zusammen und trat vom Fenster zurück.
Vorn und hinter der Scheibe sah sie nichts. Dafür hörte sie das leise Lachen in ihrem Rücken.
»Hast du mich vergessen, Rosy?«
Für einen Moment schloss sie die Augen, während das Blut in ihren Kopf schoss und ihr Gesicht färbte. Erst Sekunden später drehte sie sich um – und sah ihn.
Es war Darco Uvalde.
Nur war er nicht als Mensch gekommen, sondern stand tatsächlich als Geist vor ihr …
***
Dies zu begreifen fiel ihr alles andere als leicht. Man konnte von Geistern träumen, das war okay. Sie aber selbst zu sehen war schon etwas anderes.
Er war da und trotzdem nicht da. Sichtbar und unsichtbar zugleich. Ein bräunlicher Umriss, der einen menschlichen Körper nachzeichnete. Nur ohne Gesicht, ohne Arme, ohne Beine. Er ließ sich einfach nicht beschreiben, und trotzdem war er vorhanden. Er hatte etwas aus seiner Geisterwelt mitgebracht, das war eben die Kälte, die sie spürte.
Sie stöhnte auf. Irgendetwas musste sie einfach sagen.
Sie glaubte nicht daran, dass diese Geistgestalt nur gekommen war, um bald wieder zu verschwinden. Nein, das gab es nicht. Sie hatte einen Auftrag. Möglicherweise hing er sogar mit dem Tod ihrer Freundin Tamara zusammen.
Und dann hörte sie ihn!
Erneut erlebte sie das Phänomen, das sie sich nicht erklären konnte. Er hatte keine Stimme, und trotzdem war es ihm möglich, mit ihr Kontakt aufzunehmen.
Die Stimme wehte von verschiedenen Seiten an ihre Ohren, und sie fühlte sich von ihr eingehüllt. Dabei konnte sie sich nicht vorstellen, dass der Geist selbst sprach, aber das musste sie hinnehmen.
»Hattest du mich vergessen, Rosy?«
Sie schüttelte heftig den Kopf.
»Dann wäre ich auch enttäuscht gewesen. Ich bin ein zentraler Punkt in deinem Leben, und das will nicht nur ich, sondern auch eine andere Person, an der du sehr gehangen hast.«
Rosy erschrak. Sie musste keine weiteren Fragen stellen, denn sie wusste genau, wen der Geist gemeint hatte. Es gab nur die eine, und die war tot.
»Tamara?« Nur mühsam brachte sie den Namen über die Lippen und spürte dabei, dass sie zitterte.
»Wer sonst?«
Sie schluckte. Hitzewellen drangen durch ihren Körper und röteten ihr Gesicht erneut. Seltsamerweise war sie wieder in der Lage, klar zu denken, und sie dachte daran, dass hier von einer Toten gesprochen worden war, die noch eine bestimmte Aufgabe zu erfüllen hatte. Deshalb fragte sie leise: »Was ist mit Tamara?«
»Sie mag dich noch immer!«
Rosy verdrehte die Augen. In ihr regte sich Widerstand. Mit leiser Stimme sagte sie: »Aber sie ist tot. Sie lebt nicht mehr. Ich selbst habe ihre Beerdigung mit erlebt.«
»Ja, sie ist tot.«
»Und was willst du dann noch hier? Willst du mich quälen?«
»Nein.«
»Was dann? Warum bist du hier erschienen?«
»Die Antwort liegt auf der Hand. Ich bin gekommen, weil ich dir eine Nachricht von ihr mitteilen soll.«
»Ha, und welche?«
»Sie will dich sehen!«
Jetzt war es heraus, und Rosy wünschte sich, sich verhört zu haben. Das war nicht der Fall, denn der unheimliche Besucher wiederholte seinen letzten Satz.
Rosy trat zurück. Sie zitterte. Sie wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte. Sie kam sich vor, als würde sie an einem Scheidepunkt ihres Lebens stehen. Sie hörte ihren schweren Atem, und dann hatte sie sich so weit gefasst, dass sie eine Antwort geben konnte.
»Sie kann mich nicht mehr sehen. Sie liegt im Grab. Es ist zugeschüttet, verstehst du?«
»Ja. Und trotzdem wartet sie auf dich. Das soll ich dir von ihr ausrichten.«
Rosy stöhnte auf. Was man ihr da gesagt hatte, das war nicht nur furchtbar, sondern unglaublich. So sehr sie Tamara gemocht hatte, so gern sie von ihr noch mal für immer Abschied genommen hätte, was dieser Geist ihr gesagt hatte, das war einfach unmöglich.
»Nein, nein, ich …«
Die zischelnde Stimme unterbrach sie. »Du darfst nicht so denken, Rosy, du musst dich stellen. Sie will es so. Und möchtest du den letzten Wunsch deiner toten Freundin nicht erfüllen?«
»Das kann ich nicht.«
»Dann wäre sie sehr enttäuscht.«
»Aber sie ist tot!« Rosy schrie den Satz ihrem unheimlichen Besucher entgegen.
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