1684 - So grausam ist die Angst
»Sie lebt nicht mehr, das habe ich mit eigenen Augen gesehen!«
»Das weiß ich. Es sind die normalen Augen. Aber hin und wieder sollte man hinter die Kulissen schauen. Die normale und sichtbare Welt ist nicht alles. Da gibt es noch andere, die dahinter liegen.«
»Sprichst du von der Totenwelt?«
»Nein, von der Anderswelt. Wir sind diejenigen, die Kontakt mit ihr haben. Ja, diese Welt hat uns akzeptiert, und wir wissen, was wir an ihr haben. Tamara ist dort angekommen, aber sie hat die Chance, sie auch wieder zu verlassen. Ich habe ihr die Brücke gebaut. Sie will dich sehen, das ist ihr großer Wunsch.«
Rosy Mason wusste nicht, was sie dazu sagen sollte. Sie fühlte sich wie vor den Kopf geschlagen. In ihrem Kopf zuckte es und wieder erlebte sie die Angst als Fessel.
»Entscheide dich, Rosy, und enttäusche deine Freundin nicht.«
Sie wäre gern im Erdboden versunken. Sie wehrte sich dagegen, sie wollte nicht, aber in ihrem Innern steckte etwas, das dagegen sprach, und so fragte sie: »Wann soll ich sie treffen?«
»Heute noch. Am Abend …«
»Und wo?«
»Auf dem Friedhof!«
Plötzlich rann ein Zittern durch ihren Körper. Vor ihren Augen tanzten Flecke. Nein, nur nicht dieser Friedhof! Nur nicht Tamaras Grab! Es war für sie durch den Schamanen zu einem Ort des Schreckens geworden, und sie wollte auch ablehnen, aber aus ihrem Mund drang das Gegenteil.
»Wartet sie dort?«
»Ja, sie ist bereit.«
»Und was ist mit dir?«
»Auch ich werde dort sein. Das ist nicht nur so dahingesagt, das ist ein Versprechen.«
Rosy sagte nichts. Sie konnte nichts mehr sagen. Dafür schaute sie die Geistgestalt nur an, die ihr Aussehen nicht veränderte. Noch immer spürte sie die kalte Wand zwischen sich und diesem Uvalde.
»Ich kann mich auf dich verlassen?«
Rosy nickte.
»Dann sehen wir uns bald, aber da sind wir dann zu dritt.« Es waren seine letzten Worte.
Die Frau spürte, dass sich der Geist zurückzog. Die Kälte nahm ab, dieser Schamane löste sich vor ihren Augen auf, und nicht mal zwei Sekunden später war nichts mehr zu sehen.
Rosy Mason stand auf der Stelle und zweifelte an der Welt …
***
Diesmal dauerte es nicht so lange, bis sie sich wieder gefangen hatte. Sie hatte klare Vorgaben und würde sich daran halten müssen. Es war ihr zwar alles unbegreiflich, aber sie musste es tun.
Sie würde zum Friedhof fahren und setzte darauf, dass ihr nichts Schlimmes passierte. Tamara war ihre Freundin gewesen, und das würde sie noch über den Tod hinaus sein.
Aber sie hatte auch Eltern und Verwandte gehabt, die noch an Leben waren. Deshalb dachte Rosy darüber nach, ob es nicht besser war, wenn sie ihnen Bescheid gab.
So schnell, wie der Gedanke in ihr hochgezuckt war, verschwand er auch wieder. Nein, das war nicht gut. Sie würde die Familie überfordern und vielleicht das blanke Entsetzen auslösen. Dieser Geist hatte auch nur davon gesprochen, dass Tamara ihre Freundin sehen wollte und nicht die Familie.
Also würde sie allein losfahren. Es war für sie ein schwerer Entschluss, und sie wusste nicht, ob es wirklich richtig war. Wer konnte ihr einen Rat geben?
Als sie darüber nachdachte, stand sie wieder am Fenster und schaute nach draußen. Der Himmel hatte sein Aussehen leicht verändert. Die grauen Wolken waren noch dichter geworden. Sie bildeten eine regelrechte Drohkulisse, indem sie sich übereinander türmten.
Sie wollte trotzdem fahren. Versprochen war versprochen. Daran musste sie sich halten, zudem fürchtete sie sich vor einer Rache des Schamanen. Wer nicht das tat, was er wollte, der bekam seine Grausamkeit zu spüren, und sie fühlte sich nicht stark genug, um gegen eine Gestalt anzukommen, die so etwas wie ein Herrscher über Leben und Tod war.
Die nächsten Vorhaben führte sie automatisch durch. Sie ging in den kleinen Flur, wo es einen schmalen Einbauschrank gab. In ihm verwahrte sie einen Teil ihrer Kleidung.
Sie schloss die Tür auf und ein Blick reichte, um das zu finden, was sie suchte.
Es war der gelbe Regenmantel mit einer dazugehörigen Kapuze. Der schützte sie zwar nicht ganz vor den Unbilden der Natur, aber er war schon okay.
Sie streifte ihn über. Bis zu den Knien reichte der Saum. Jetzt war sie fertig. Im Mund spürte sie einen bitteren Geschmack. Die Kehle war ihr eng geworden und auch das Zittern konnte sie so leicht nicht unterdrücken.
Dann nahm sie den Wagenschlüssel an sich, zog auch festes Schuhwerk an und fühlte sich startklar. Jetzt musste sie nur
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