170 - Die Scharen der Nacht
des Erdballs, – die Erkenntnis der größten Gefahr seit dem Aufprall: das Erwachen eines seit Äonen Schlafenden, der sich in einem brennenden Felsen manifestierte. Und die Schlussfolgerung: Gefahr für die eigene Rasse!
All dies sah Suúna in einem Sekundenbruchteil, doch sie verstand nichts davon.
Sie wusste nur eins: Sie würde in wenigen Minuten tot oder etwas Schlimmeres sein, wenn sie nicht sofort aufstand, alle Wachen, die sich ihr in den Weg stellten, tötete und um ihr Leben rannte…
Dass ihr dies gelungen war, fiel ihr erst auf, als sie mit langen Sätzen die Treppe hinauf jagte und ihre leer geschossenen Yutzis in den Gürtel steckte: Zwei Wachen wälzten sich vor der Tür in ihrem Blut, zwei andere standen durchlöchert neben dem Edelstein – Kristall! –, der am Boden lag, und schrien nach Verstärkung. Die letzten beiden waren tot.
Suúna verfluchte ihren Größenwahn. Sie hatte alles versiebt.
Aruula hatte Recht gehabt: Mit den schwarzen Weibern und dem Kristall stimmte etwas nicht. Gegen ihre Hexenkräfte kam man nicht an…
Als sie im obersten Stockwerk die Tür aufstieß und auf den Säulengang hinausstürmte, war unten im Hof die Hölle los.
Gestalten schwenkten Laternen, eilten hin und her und riefen mit schriller Stimme Namen, Fragen und Anweisungen. In Suúnas Kopf wirbelte so vieles durcheinander, dass sie nicht mal wusste, wie sie den Raum mit dem Eisenträger an der Außenwand erreicht hatte, durch den sie in das Kloster eingedrungen war.
Sie stand in der Öffnung. Unter ihr war der Abgrund. Ihr Blick suchte ihr Seil und fand es zusammengerollt auf dem Boden liegend.
Ein furchtbarer Druck sprengte fast ihr Hirn. Und eine Stimme war in ihrem Kopf, die SPRING! sagte.
»Ja…« Suúna empfand große Übelkeit. »Ja, ich springe …«
Sie griff sich an den Hals und würgte. Ihr Geist umwölkte sich.
Ihre Knie knickten ein.
Und eine Hand packte sie von hinten am Kragen.
***
Aruulas Finger krallten sich in den Kragen von Suúnas Umhang und rissen sie zurück.
Suúna wirbelte herum. Ihr Blick war von Grauen erfüllt.
Obwohl sie gerade noch so ausgesehen hatte, als würden ihre Beine nachgeben, als werde sie gleich in die Tiefe stürzen, war sie weit davon entfernt, das Bewusstsein zu verlieren.
Sie riss die Arme hoch und griff nach Aruulas Kehle. Ein Fauchen kam aus ihrem Mund.
Keine Zeit für Erklärungen.
Aruula ging in die Hocke. Suúnas Hände griffen ins Leere.
Aruula kam wieder hoch und schlug zu. Klatsch. Genau auf den Punkt. Suúna verdrehte die Augen und fiel um.
Damit sie sich nicht verletzte, fing Aruula sie auf und ließ sie zu Boden sinken. Dann machte sie die Tür zu und trennte mit ihrem Schwert einen Meter von dem am Eisenträger hängenden Seil ab. Sie band Suúnas Hände zusammen und hängte sich ihre Gefährtin über die linke Schulter.
Dann verstaute sie ihr Schwert, packte das Seil und ließ sich daran langsam in die Tiefe.
Unten angekommen, raschelte es in den Büschen und eine heisere Männerstimme grollte: »Eine falsche Bewegung, Ungläubige, und endest als Piigfutter!«
Aruula verschluckte die Verwünschung, die ihr auf der Zunge lag. Dass die Banditen ihr ausgerechnet jetzt über den Weg liefen, war zu viel des Guten.
»Hört zu«, sagte sie, während die vier Lumpen mit Armbrüsten im Anschlag aus dem Dickicht traten. »Ob ihr's glaubt oder nicht: Wenn ihr mir nicht sofort die Last abnehmt und mit uns zusammen hier verschwindet, haben wir in einer Minute sechzig bis an die Zähne bewaffnete Schergen am Hals.«
Es war wohl nicht ratsam zu erwähnen, dass die Schergen weiblichen Geschlechts waren. Dies hätte die Turbanträger eher provoziert zu beweisen, dass sie es mit sechzig Frauen aufnehmen konnten.
»Das ist die Metze, von der ich dir erzählt habe, Onkel Abdul«, sagte der Kerl mit dem verbundenen Arm aufgeregt.
»Sie hat Taniz getötet! Ich habe es gesehen!« Er zerrte an Suúna, die wie schlafend auf Aruula hing und allmählich zu einem Problem wurde. »Und die hier hat mit Feuerstöcken auf uns geschossen! Lasst sie uns ausziehen und peitschen, bis ihre die Haut in Streifen herunterhängt…« Aruula fragte sich, wann er anfangen würde zu sabbern.
»Nimm sie ihr ab, Hakaan«, befahl Abdul.
Er war trotz seiner Bartstoppeln ein attraktiver Mann mit einem gezwirbelten Schnauzbart und einem Silberblick, der ihn melancholisch wirken ließ. Aber davon durfte man sich nicht täuschen lassen.
Hakaan befreite Aruula von ihrer Last und
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