1712 - Verflucht bis in den Tod
ausging, die sich im Laufe der langen Zeit angesammelt hatte.
Und es gab einen Altar.
Er war klein, passend für die Kapelle. In früheren Zeiten hatte er wohl mal prächtig ausgesehen, wenn man ihn geschmückt hatte. Jetzt war er leer, und da das Kerzenlicht ihn streifte, war er gut zu sehen.
Er war mehr breit als tief. Beine gab es nicht. Die Platte lag auf einem gemauerten Viereck. Sie passte genau, sodass der Altar wie eine kantige Truhe wirkte.
Hinter dem Altar ragte die Wand auf. Auch dorthin fiel das zuckende Licht und zeigte, dass sie leer war. Keine Ikonen, keine Figuren, die Heilige zeigten.
Es führte auch keine Treppe zum Altar hinauf. Er stand auf dem alten Steinboden.
Laut Aussage sollte sich Rasputin in dieser Kapelle verbergen. Hier hatte er so etwas wie seine letzte Ruhe stattgefunden, aber wo?
Diese Frage stellte sich Wladimir, ohne sie laut auszusprechen. Er wusste, dass ihm die Killerin noch etwas sagen würde, und hielt sich deshalb zurück, auch wenn es ihm schwerfiel.
Wenn er allerdings daran dachte, wem er bald gegenüberstehen würde, wurde ihm fast schwindlig. Rasputin war in seinem Heimatland nicht irgendwer. Der Mönch war eine bedeutende Gestalt der russischen Geschichte. Er war ein Magier, ein Heiler und einer, der von seinen Anhängern wie ein Heiliger verehrt worden war.
Aber das war vergangen. Man hatte ihn getötet, und jetzt sollte das alles nicht mehr stimmen.
Chandra stand noch immer hinter dem Rollstuhl und hielt seine Griffe fest. Sie wartete darauf, dass Wladimir eine Frage stellte, was er auch tat.
»Wo ist er denn?«
»Du wirst ihn gleich sehen.«
»Hier in der Kapelle?«
»Ja, denn sie ist sein Versteck. Hierher hat man ihn geschafft, als man ihn aus der Newa zog. Es gab damals noch genug Vertraute, auf die er sich verlassen konnte. Sie haben seinen Körper geborgen und versteckt. Zuerst in einem Kloster, aber das war ihnen nicht sicher genug. Später haben sie ihn dann in diese Kapelle geschafft, und da ist er bis heute.«
»Tot oder nicht tot?«
»Einer wie er darf nicht sterben!«, flüsterte Chandra. »Auch wenn man ihn bis in den Tod hinein verflucht hat, er hat schon immer stärker als der Tod sein wollen, und das hat er geschafft.«
»Dann beweise es mir!«
»Das werde ich«, flüsterte Chandra und ließ die Rollstuhlgriffe los. Sie verursachte kein Geräusch, als sie sich auf den Altar zu bewegte, an ihm vorbeiging und hinter ihm stehen blieb.
Wladimir runzelte die Stirn. Er wusste nicht, was er von dieser Geste halten sollte. Als Schau wollte er sie nicht einstufen, dahinter steckte schon mehr.
Chandra bückte sich. Dabei breitete sie die Arme aus, um die Platte an den Längsseiten zu umfassen. Das hatte im ersten Moment etwas Symbolisches an sich, und Golenkow glaubte nicht daran, dass sie sich abstützen wollte, um einen Handstand auf dem Altar zu machen.
So war es dann auch nicht. Die kugelfeste Killerin griff noch einmal zu und drehte ihren Körper nach links. Zugleich bewegte sich dabei die Platte, was mit einem knirschenden Geräusch verbunden war, als hätte jemand auf Zucker getreten.
Sie drehte die Platte, und sie ließ sich relativ leicht bewegen, sodass eine Öffnung freigelegt wurde.
Der Agent hielt den Atem an und starrte nach vorn. Er spürte, dass ein Schweißtropfen vom Nacken her wie eine Eiskugel über seinen Rücken hinablief.
Bisher hatte er sich nicht mit dem Gedanken anfreunden können, dass die geschichtsträchtige Gestalt noch lebte. Nun musste er umdenken, was ihm nicht mal schwerfiel.
Chandra hatte den Deckel verschoben. Jetzt packte sie ihn und nahm ihn ganz ab. Er war schwer, doch sie schaffte es, ihn auf den Boden zu legen.
Dann senkte sie den Kopf und schaute in das offene Unterteil. Sie nahm plötzlich die Haltung einer betenden Frau ein, legte sogar die Hände zusammen und flüsterte ihre Botschaft.
»Deine Ruhe ist vorbei, Meister. Du bist nie vergessen worden. Viele warten auf dich, auf deine Rückkehr, und die steht dicht bevor. Wir wissen, dass du es geschafft hast, den Tod zu überwinden. Dein Elixier, dein Zaubertrank ist stark genug gewesen, und das Rezept hast du vom Teufel persönlich. Die Welt hat sich verändert, aber es warten immer noch viele Menschen auf den alten und jetzt auch neuen Herrscher. Und du wirst nicht allein sein. Auch Sobotin, dein engster Vertrauter, hat die langen Jahre in einem Versteck überlebt. Dank deines Elixiers. Du bist frei, wir wollen dich. Werde wach, steh auf und
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