172,3 (German Edition)
auch nur einen Zentimeter näher gekommen war. Aber er wusste, dass ihn diese Anstrengung Kraft gekostet hatte. Viel Kraft.
*
»Alex?!«
Keine Antwort.
Die Taschenlampe hatte Dennis fallen lassen. Sie strahlte links an ihm vorbei auf den See, lag – für ihn nun unerreichbar – auf dem verdorrten, zugeschneiten Gras. Er zog sich an den Halmen näher ans Ufer, versuchte mit den Füßen Halt zu finden. Vorsichtig setzte er seinen linken Fuß auf, belastete ihn und sank augenblicklich ein.
»Scheiße!«, fluchte er.
Sich nur an den Grashalmen die Böschung hinauf ans Ufer zu ziehen, gelang ebenso wenig. Entweder brachen die Halme oder ganze Büschel lösten sich samt Wurzeln aus dem feuchten Boden.
»Verdammt!«
Seine Lippen zitterten vor Kälte.
»Alex?«, rief er, als Luftblasen auf der Wasseroberfläche zerplatzten. Er musste schnell hier raus, ansonsten war er der nächste, den sich der Fettsack holte. Was für ein abgefuckter Typ! Lockte sie hierher, legte Sascha’s Finger als Köder aus und zog sie dann ins Wasser. Hätte er dem Wichser gar nicht zugetraut, dass er tauchen konnte. Sogar ohne Licht. Das wunderte ihn und er suchte das Gewässer nach einer Lichtquelle ab.
»Komm raus, Fettarsch! Stell dich!«
Er rammte seinen Ast so tief es ging in den nachgebenden und schmatzenden Boden, was nicht einfach war, weil er keinen festen Stand hatte und alle Kraft nur aus seinem Oberkörper zog.
»Alex?«, rief er noch einmal und wusste, dass es langsam kritisch für seinen Kumpel wurde. Er brauchte dringend einen Plan. Schlotternd atmete er aus, griff den Ast fester, zog sich mit einem Ruck hoch … und etwas hielt ihn am Bein fest!
*
Alex rüttelte an dem, was sich an ihm festhielt, nahm seine rechte Hand zur Hilfe, packte es mit beiden Händen, zog und zerrte daran – ohne Erfolg. Sterne blitzten vor seinen Augen auf und der Wunsch, den Mund zu öffnen, um zu atmen, wurde immer mächtiger. Nein, nein, nein , wiederholte er wie ein Mantra, während er sich abmühte, und mit jedem ›Nein‹ schwanden seine Kräfte.
Ein neuer Versuch, wahrscheinlich sein letzter. Er ließ seinen Widersacher los, wandte sich hin und her. Immer schneller, wie eine Schraube, drehte er sich unter Wasser. Vor, zurück, links herum, rechts herum… wie damals mit Patrick, seinem besten Freund, als die Jungs mit ihren Rädern zum Baggersee gefahren waren, sich im Laufen ausgezogen und mit lautem Gejohle ins Wasser gestürzt hatten. ›Jetzt du, jetzt du!‹, feuerten sie sich dann gegenseitig an und einer schraubte und drehte sich bis zur völligen Erschöpfung, während der andere im Wasser daneben stand und Schulnoten vergab.
»Jetzt ich!«, rief Alex und lachte. Und sein lebloser Körper trieb im trüben Brackwasser dem Grund entgegen.
*
»Lass los, du Arschloch!«, schrie Dennis und trat nach dem Angreifer. Mit Erfolg. Vogel hatte von ihm abgelassen.
»Hab ich dich erwischt, ja?«
Dennis lachte dreckig und schwang sich erneut dem Ufer entgegen. Wieder wurde er festgehalten. Erschrocken stellte er fest, dass er kein Gefühl mehr in seinen Füßen und seinen Händen hatte, dass seine Kräfte schwanden und die Kälte ihn müde machte. Er trat nach Vogel. Zu schwach.
»Scheiße … lass los, Fettsack! Ich schwör dir, mein Alter wird dich fertig machen!«
Dennis’ Gebrüll wurde von Schüttelfrostattacken unterbrochen. Seine Stimme überschlug sich, bis er kreischte. Er schluckte Wasser, hustete und versuchte sich seitwärts ans Ufer zu drehen, aber das Arschloch von Lehrer ließ ihn nicht, wollte ihn wahrscheinlich jämmerlich erfrieren lassen.
»Hör zu, das mit deiner Tochter war nur’n Scherz.«
Schwachsinn. Warum war er dann hier?
»Wir wollten uns gerade bei ihr entschuldigen. Ehrlich! Deshalb sind wir hier.«
Ruckartig musste er nach dem Ast greifen. Ihm war gar nicht aufgefallen, dass er ihn losgelassen hatte. Seine Hände waren furchtbar taub. Erst jetzt spürte er, dass Vogel sein Bein abtastete.
»Was machst … was machen Sie da, Herr Vogel?«
Dennis drehte sich, um besser sehen zu können. Im diffusen Zwielicht sah er durch den fahlen Schein der Taschenlampe etwas Dunkles und ölig Glänzendes an seinen Beinen. Er sah auch, dass sein Hosenbein hochgerutscht war.
»Herr … Herr Vogel?«
Dennis zitterte. Was machte der Kerl da? Plötzlich bewegte sich der Schemen und Dennis wurde gewahr, dass es nicht der Lehrer an seinen Beinen war. Es war ein hautloser Schädel, den er sah. Mit weit aufgerissenen, weißen Augen ohne
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