172,3 (German Edition)
Augenlidern und einem Gebiss ohne Lippen. Dennis schrie, dachte an einen makabren Scherz, der ihn erschrecken sollte. Doch der Scherz endete, als der Homunculus seine Zähne in Dennis’ Wade grub, ein großes Stück Muskelfleisch herausriss und verschlang. Nach dem dritten Biss schwanden Dennis die Sinne. Die Fliegen, die wie aus dem Nichts auftauchten und sich auf sein Gesicht setzten, spürte er nicht mehr.
*
»Papa!?«
Viktor prustete, schluckte Wasser, schlug um sich und kam erst, nachdem er sich nicht mehr im Todeskampf wähnte, langsam zur Besinnung. Er hatte keine Luft mehr bekommen und wie in einen Albtraum erinnerte er sich an den Druck, der auf seiner Brust gelastet hatte. Er stemmte sich hoch, spürte einen stechenden Schmerz an seiner Ferse und sah Blut am Badewannenrand.
»Papa?!«
Er hörte nun neben Sorge auch Angst in Danielas Stimme.
»Alles gut. Ich war nur eingenickt«, beruhigte er sie.
»Du hast geschrien, Papa«, zweifelte sie.
»Ich hab was Blödes geträumt. Es ist alles in Ordnung.«
Er stieg aus der Wanne, griff sich ein Handtuch und spähte aus dem Fenster.
»Wirklich?«
Daniela blieb hartnäckig. Er wickelte sich das Handtuch um die Hüfte, schloss die Tür auf, öffnete sie einen Spalt und zeigte sein Gesicht.
»Wirklich«, sagte er nachdrücklich mit fester Überzeugung.
Sie musterte ihn eine Weile und nickte dann.
»Mir ist kalt.«
Er zitterte anschaulich und schloss die Tür. Viktor lauschte, und nachdem Daniela in ihr Zimmer zurückgegangen war, setzte er sich vor Erschöpfung und Bestürzung auf den Badewannenrand. Eine Schnittwunde an der Hacke. Wahrscheinlich hatte er sie sich am Notausguss zugezogen. Mit Klopapier stoppte er die Blutung und dachte nach. Er war einen Handel eingegangen, bei dem er fast ertrunken wäre. Er spürte, er hatte Kräfte entfesselt, die man besser nicht entfesselte. Er konnte die Fliegen deuten, die aus dem Nichts auftauchten und ihre Kreise zogen. Aber die Hitze eines Feuers, den beißenden Geruch von Rauch, konnte er sich nicht erklären. Mit einem beklemmenden Gefühl fiel er später in einen tiefen Schlaf.
*
Viktor erwachte am Morgen, noch ehe der Wecker läutete. Trotz eines unruhigen Schlafes oder den zwickenden Boten des schleichenden Alters fühlte er sich wie neugeboren. Vital und kräftig. Und dünner. Viel dünner! Schwungvoll drehte er sich auf die Seite, streckte tastend seine Hand aus und stutzte. Der Platz, wo Larissa hätte schlafen sollen, war leer. Sofort umspülten ihn Wellen der Sorge, er setzte sich auf und suchte sein Handy, in der Hoffnung eine Nachricht über ihren Verbleib erhalten zu haben. Eine SMS hatte er über Nacht bekommen. ›Übernachte bei Vera‹ stand dort. Lange starrte er das Display an und versuchte aus der Melange seiner Gefühle die wichtigsten heraus zu filtern. Er empfand eine bittere Ungerechtigkeit. Sollte Larissa wütend auf ihn sein – und dieses Recht gestand er ihr in weiter abnehmendem Maße zu –, musste sie mit ihm reden. So hatten sie es bisher gehalten, und er erachtete seine letzte Verfehlung nicht als so gravierend, dass neue Verhaltensweisen in ihrer Partnerschaft erprobt werden mussten. Und genau das tat Larissa: ein Exempel statuieren. Ein Bösartiges. Zum einen zerstörte sie – ohne Absprache mit ihm – seine Beziehung zu Vera und Lars, wenn sie über diesen alltäglichen Fauxpas mit Vera redete. Zum anderen hatte er sich Sorgen um sie gemacht. Ihr hätte sonst was zugestoßen sein können. Außerdem sorgte sie mit ihrem unbedachten und überstürzten Handeln dafür, dass sein euphorisches Gefühl verklang – und das war am ärgerlichsten.
»Scheiße!«, fluchte er, stemmte sich hoch und schritt energisch ins Badezimmer. Er klappte die Klobrille hoch und urinierte im Stehen. Wenn sie schon nicht da war, musste er auch nicht ihre sinnlosen Regeln befolgen. Mit Genugtuung bemerkte er einige dunkelgelbe Urinsprenkel, die er hinterlassen hatte. Er betätigte die Spülung und begann mit seinem morgendlichen Ritual: Er stellte sich auf die Waage.
PING! ›Sie wiegen hunderteinundfünfzigkommaacht Kilogramm‹
Wahnsinn! Er hatte über dreieinhalb Kilo an einem Tag verloren.
So ein zügiges Abnehmen war bei Männern zu Beginn nicht ungewöhnlich, aber er hatte diese Phase schon längst hinter sich. Was hatte er gestern gegessen? Tatsächlich erinnerte er sich nicht daran. Wahrscheinlich war es der ganzen Aufregung geschuldet und er hatte außer Obst zum Frühstück keine weiteren Mahlzeiten zu
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