179 - Gefangene der Traumzeit
Zeit am Licht der Sterne nicht erkennen. Es war so finster wie zuvor, und das seit neunundneunzig Jahren.
Aruula fiel auf, dass der Turm nicht in der Wildnis stand, sondern zwischen schneebedeckten Trümmern. Dass sie es erkannte, lag an den organischen Leuchten, mit denen Zarrat und Hauptmann Yasef den vor ihnen liegenden Weg erhellten: Sie sahen wie faustdicke ballonförmige Pflanzen aus, die von innen heraus leuchteten.
Genau das waren sie auch. Laut Zarrat wuchsen sie wie Trüffel unter der Erde. Warum sie leuchteten, war ihm unbekannt, denn er war Soldat, kein Studierter. Jedenfalls brauchte man nur auf die Wurzel am Ballonende zu drücken, und schon gab es Licht.
Die Ruinen sahen uralt aus. Die Stadt, die einst hier gestanden hatte, war wohl schon vor Äonen eingestürzt.
»Wo sind wir?«, fragte Aruula, als sie vor einem zugeschneiten Haufen Steine anhielten.
Hauptmann Yasefs Leuchtknolle deutete auf ein Loch in dem Steinhaufen. Ein Gang?
»Unser Glück hat sich gewendet!«, sagte der Graf. »Unsere Pioniere sind nach langer Suche endlich auf die Alte Bibliothek der Weißen Magier gestoßen!«
»Eine Bibliothek?« Aruula folgte Yasef in den Gang hinein.
Zarrat schloss sich ihnen an.
»Die Aufzeichnungen des Hofmagiers meines Großvaters besagen, dass in dieser Bibliothek eine Abschrift des Buches existiert, das wir brauchen, um Xordimor weiterhin zu bannen!«
Im hellen Schein ihrer Leuchten gingen sie geduckt weiter und kamen an eine eiserne Wendeltreppe, die hinab führte. Je tiefer sie kamen, umso dunkler und kälter wurde es. Ihre Schritte hallten auf unheimliche Weise.
Schließlich blickten sie durch eine Tür, hinter der ein gewaltiger Saal mit Hunderten von Holzregalen zu sehen war.
Zahlreiche Leuchtknollen, überall mit eingeklemmten Wurzeln verteilt, erhellten den Raum.
Aruula schaute sich um. Die Regale reichten bis an die Decke, und die lag mindestens vier Meter hoch. Bücher, wohin das Auge schaute. Es roch nach Staub, Papier und trockenem Leim. Ein Hutzelmännchen mit runden Brillengläsern und eine lange dürre Gestalt, der man den Magier schon aus der Ferne ansah, näherten sich ehrerbietig dem Grafen.
Während Graf Zarrat mit den beiden durch eine Regalreihe schritt, blieben Aruula und Hauptmann Yasef in der Nähe der Tür stehen.
Aruula hatte noch nie so viele Bücher gesehen. Über allem, was diese unterirdische Schatzkammer enthielt, lag der Staub einer zeitlosen Ära.
»Das sind verdammt viele Bücher«, sagte sie. »Wie wollt Ihr in nur elf Stunden ausgerechnet das eine finden, in dem die Formel steht, die Ihr so dringend braucht?«
»Das frage ich mich auch.« Hauptmann Yasef schaute sie an und konnte die Verzweiflung in seinem Blick nicht verbergen.
»In meiner Heimat«, fuhr er mit volltönender Stimme fort, »sagt man allerdings, man könne das eine tun und brauche das andere nicht zu lassen.«
»Ah!« Aruulas Miene erhellte sich. »Mein Freund Maddrax würde sagen: Wir haben immer noch Plan B!«
»Ich kenne Euren Freund zwar nicht«, erwiderte Yasef lächelnd, »aber er scheint kein Hohlkopf zu sein.«
»Wie sieht Euer Plan B aus, Hauptmann Yasef?«
»Da wir wenig Zeit haben, müssen wir alle Register ziehen.«
Yasef zupfte an seinem Schnauzbart. »Wenn uns der Erfolg versagt bleibt, werden wir in elf… oder eher zehn Stunden zuschauen, wie Xordimor und sein Gesinde ins Freie schreitet.« Er bleckte die Zähne. »Als er in die Verbannung ging, hat er geschworen, die Nachfahren der Magier, die ihn gebannt haben, sowie die ihrer adeligen Auftraggeber mit dem übelsten Fluch zu belegen, den die Welt kennt. Wir gehen davon aus, dass er die Zeit seiner Verbannung damit verbracht hat, höllische Tinkturen zu mischen.«
Aruula schüttelte sich. »Was können wir also tun?«
»Plan B sieht vor, dass Graf Zarrat an der Spitze seiner adeligen Mitstreiter in den Turm eindringt, um Xordimor und sein Gesinde zu töten, den Bann damit aufzuheben und der Ewigen Nacht endlich ein Ende zu bereiten.«
»Wieso hat bisher noch niemand diesen Xordimor getötet?«, erkundigte sich Aruula. »Warum habt ihr euch lieber neunundneunzig Jahre der Finsternis auf den Hals geladen?«
Der Hauptmann zuckte verlegen die Achseln. »Ihr wisst nicht, was für ein Ungeheuer Xordimor ist. Es hat sich bisher niemand gefunden, der den Mut dazu gehabt hätte. Nun bleibt uns keine Wahl.«
Aruula tastete nach dem Griff ihres Schwertes. Bevor sie etwas sagen konnte, wandte sich Zarrat um und
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