1792 - Die Nachtjägerin
vor? Ich konnte nur raten. Entweder würde er einen Weg zur Rückkehr finden oder er würde außerhalb eines Menschen bleiben und neue grausame Zeichen setzen. Durch mein Kreuz war er gewarnt worden, dass wir ihm auf der Spur waren, aber ihn zu stellen stand auf einem anderen Blatt.
Irina Dark hatte sich wieder aufgerichtet. Sie stand jetzt auch auf und wischte mit einem Tuch den Schweiß und auch das Tränenwasser aus ihrem Gesicht.
»Wenn Sie mich schon so verändert haben«, sprach sie Suko und mich an, »dann sagen Sie mir zumindest, wie es weitergehen soll. Ich für meinen Teil weiß es nämlich nicht.«
»Wir müssen abwarten.«
»Wieso?«
»Es kann sein, dass Ihr Zweitkörper wieder zu Ihnen zurück will.«
»Und dann?«
»Würde ich gern in Ihrer Nähe sein.«
Irina Dark gab keine Antwort. Sie musste sich bewegen, was in dieser Enge gar nicht so einfach war. Sie ging hin und her.
»Meinen Sie denn, dass ich der Mittelpunkt bin oder sein werde?«, fragte sie.
»Das ist möglich«, sagte Suko.
Irina schüttelte entschieden den Kopf. »Nein, so wird das nicht laufen. Mein Zweitkörper ist jetzt frei, und das jagt mir Angst ein.«
»Und warum haben Sie Angst?«
»Suko, bitte, das müssen Sie verstehen. Ich habe Angst davor, dass er Dinge tut, die ich nachvollziehen kann. Dass er andere Wesen tötet. Damit schließe ich Menschen mit ein, denn er ist böse, sehr böse sogar.«
»Das haben Sie aber schnell herausgefunden«, sagte Suko.
»Ja, ich habe gelitten. Aber ich wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte. An wen hätte ich mich wenden sollen? So habe ich ihn akzeptiert.«
»Und Sie haben erleben können, wie grausam er ist – oder?«
Sie schaute mich an. »Ich weiß nur, dass er grausam sein kann, mehr auch nicht.«
»Dass er sich Kraft holt«, sagte ich.
»Wieso?«
»Bei oder von den Toten«, sagte ich leise. »Haben Sie ihn nicht selbst verfolgen können? Deshalb stehen wir doch hier. Es war Ihr Zweitkörper, der Sie hergebracht hat.«
Sie dachte einen Moment über die Antwort nach und stimmte uns dann zu. »Ich wollte endlich Gewissheit haben«, sagte sie dann, »aber jetzt frage ich mich, ob das auch gut gewesen ist. Wenn der Zweitkörper in mir steckte, dann stand er unter Kontrolle.«
»Und jetzt nicht mehr?«, fragte Suko.
»So ist es. Jetzt nicht mehr. Nun kann er tun und lassen, was er will.«
»Hat er das nicht vorher schon gekonnt? Oder brauchte er Ihre Zustimmung?«
»Ich weiß es nicht.«
»Was wissen Sie überhaupt?« Suko hatte die Frage etwas schärfer gestellt, und Irina zuckte zusammen. Sie drückte sich nicht vor einer Antwort.
»Mir ist erst in den letzten Tagen und Nächten klar geworden, wer ich wirklich bin. Noch jetzt habe ich Probleme, damit fertig zu werden. Ich muss erst meinen Weg finden.«
Das glaubten wir ihr. Ich hatte auch noch eine Frage. »Wäre es möglich, dass Sie jetzt, ja, in diesem Augenblick, Kontakt zu Ihrem Zweitkörper haben?«
Die Frage hatte sie überrascht, und sie schaute auch ziemlich konsterniert aus der Wäsche.
»Und?«
Jetzt reagierte Irina und schüttelte den Kopf. »Das weiß ich wirklich nicht.«
»Könnten Sie es probieren?«
»Weiß nicht …«
Nach dieser Antwort wedelte sie mit beiden Händen vor meinem Gesicht herum.
»Mehr wissen Sie nicht?«
Sie schnappte nach Luft. »Ja, ich weiß nicht viel. Aber ich weiß sehr genau, dass dieser Zweitkörper nicht ich bin. Oder so ist wie ich. Es gibt keine Kontrolle mehr, die man über ihn haben kann. Er kann tun und lassen, was er will, und das ist nicht gut.«
»Was meinen Sie damit?«
»Mein Zweitkörper muss nicht das tun, was ich im Augenblick mache. Er kann sich noch mehr absetzen und dann anfangen zu morden …«
***
Eigentlich war Jeb Fisher mit sich unzufrieden, nachdem er sich einige Zeit außerhalb des Geschehens aufgehalten hatte. Aber er hatte es einfach nicht länger in seinem Büro ausgehalten. Es war ihm so klein vorgekommen, und auch mit dem Thema hatte er sich nicht anfreunden können.
Dann schon lieber draußen bleiben und später reingehen, wenn sich die Atmosphäre abgekühlt hatte.
Welch ein Tag!
Er hatte damit nicht gerechnet, aber er war froh, die beiden Männer vom Yard in seiner Nähe zu wissen, alles andere wollte er vergessen. Auch das Gerede der Frau. Er wollte nicht daran glauben, was sie gesagt hatte. Das gab es nicht. Das war einfach zu hoch für ihn. Er hatte immer mit beiden Beinen auf dem Boden der Tatsachen gestanden, und das
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