18 Gänsehaut Stories
glaubte er, seinen Augen gegenüber zwei wilde Augen zu erschauen, die ihn beobachteten … in jäher, heftiger Bangigkeit warf er den Kopf, die Haare gesträubt, zurück. Doch nein. Seine Hand, die Steine betastend, gab sich darüber Rechenschaft; es war der Widerschein der Augen des Inquisitors, was er noch immer in den eigenen Augen bewahrt und auf zwei Flecke der Mauer übertragen hatte.
Vorwärts! Er mußte nach jenem Ziel hasten, das er sich, zweifellos in krankhaftem Wahn, als die Befreiung vorstellte. Nach jenen Schatten, von denen er kaum weiter entfernt war als etwa dreißig Schritte. So setzte er denn schneller, auf den Knien, auf den Händen, auf dem Bauch, seinen Leidensweg fort. Und bald war er in dem dunklen Teil dieses erschreckenden Ganges.
Plötzlich spürte der Beklagenswerte eine Kälte in den Händen, die er auf die Fliesen stützte; das rührte von einem starken Luftzug her, der unter einer Türe hindurchwehte, bei der die beiden Mauern endeten. Gott! Das ganze Ich des kläglichen Flüchtlings wurde von dem Schwindel einer Hoffnung durchdrungen. Von oben bis unten musterte er die Türe, ohne sie doch, infolge des Dunkels rund um ihn, deutlich unterscheiden zu können. Er tastete, kein Riegel, kein Schloß. Eine Klinke! Er richtete sich auf, die Klinke gab unter seinem Daumen nach; die Türe öffnete sich geräuschlos vor ihm.
»Hallelujah!« flüsterte in einem glühenden Dankgebet der Rabbi, aufrecht auf der Schwelle, bei dem Anblick, der sich ihm bot.
Die Türe hatte sich auf die Gärten unter einem Sternenhimmel geöffnet! Auf den Frühling, die Freiheit, das Leben! Und von hier aus dehnte es sich nach den nahen Feldern, nach den Sierras, deren windungsreiche Umrisse sich blau vom Horizont abhoben. Dort, dort war das Heil! Oh! Nur fliehen! Er würde die ganze Nacht durch diesen Hain von Zitronenbäumen laufen, deren Düfte ihm entgegenschlugen. Einmal im Gebirge, wäre er gerettet; der Wind belebte ihn, seine Lungen atmeten wieder. Er hörte, das Herz geweitet, das Veni foràs des Lazarus. Und um noch einmal den Gott zu segnen, der ihm diese Barmherzigkeit spendete, streckte er die Arme vor sich aus, hob die Augen zum Firmament; es war reinste Verzückung.
Da glaubte er zu sehen, wie der Schatten seiner Arme sich gegen ihn wendete, er glaubte zu spüren, wie diese Schattenarme ihn umschlangen, ihn preßten, zu spüren, wie er an eine Brust gedrückt wurde. Ja, eine hohe Gestalt erhob sich vor ihm. Vertrauensvoll senkte er den Blick auf diese Gestalt – und dann schwankte er, starrte er, den Blick getrübt, zitternd, die Backen geschwellt, vor Entsetzen geifernd.
Ein Grauen! Er war in den Armen des Großinquisitors selbst, des ehrwürdigen Pedro Arbuez d’Espila, der ihn betrachtete, die Augen von schweren Tränen gefüllt, wie ein guter Hirt, der sein verirrtes Schaf wiederfindet …
Der düstere Priester drückte in einem Aufschwung von so glühendem Erbarmen den unglücklichen Juden an sein Herz, daß die Stacheln des mönchischen Büßerhemds unter der Soutane in die Brust des Dominikaners eindrangen. Und während der Rabbi Aser Abarbanel die Augen unter den Lidern verdrehte, vor Angst in den Armen des asketischen Dom Arbuez röchelte und undeutlich erfaßte, daß alle Phasen des unheilvollen Abends nichts waren als eine wohlvorbereitete Folter, die Folter durch die Hoffnung, flüsterte der Großinquisitor im Ton ergreifenden Vorwurfs, nicht ohne Bestürzung im Blick, mit glühendem Atemhauch ihm ins Ohr:
»Wie, mein Kind! An der Schwelle des Heils vielleicht, hast du uns verlassen wollen?!«
Der schwarze Kater
von
Edgar Allen Poe
Edgar Allen Poe (1809-1849) galt in seinem amerikanischen Geburtsland
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