18 Geisterstories
dem Alter, wo die Pietät vor Tod und Grab noch nicht ganz erloschen ist, und der rätselhafte Vorfall mit den gestohlenen Armen spukte mir noch im Kopfe.
Indessen fürchtete ich Söllings ironisches Gesicht und das spöttische Gelächter meiner Kameraden fast ebensosehr, und nach kurzem Bedenken ging ich mit einer Miene fort, als sollte ich nur vom Budiker ein Bund Zigarren holen. Mit vieler Mühe schellte ich den alten Pförtner aus seinem süßen Schlummer empor, unter dem Vorgeben, daß ich eine wichtige Bestellung an Outzen hätte, und dann eilte ich zu diesem hinauf, dessen Fenster nach dem Kirchhofe hinausblickten. Outzen war Theologe und ein streng sittlicher Charakter; das wußte ich sehr wohl und war deshalb ziemlich darauf vorbereitet, daß er mir den Schlüssel verweigern würde, der mir Zugang zum vierten Hofe und von dort aus zum Kirchhofe verschaffen sollte.
Outzen nahm auch die Sache sehr ernsthaft. Er schob die hebräische Bibel, in der er bei meinem Eintritt gelesen hatte, zurück, schob die Lampe empor und blickte mich verwundert an, während ich meine Bitte vorbrachte.
»Es ist ein sündhaftes Unternehmen, das du da vorhast, lieber Siemsen«, sagte er ernsthaft, »und du tätest am besten, davon abzulassen. Von mir erhältst du keinen Schlüssel zu solchem Zweck. Der Friede des Grabes ist heilig und unverletzlich; den darf niemand stören.«
»Wie denkst du dann über den Totengräber? Der legt jeden Tag neue Leichen zu den alten, und lebt darum nicht minder.«
»Er tut nur seine Pflicht«, antwortete Outzen ruhig, »und keiner wird ihn darob schelten. Aber der, welcher aus übermütiger Laune und noch mit dem Punschdampfe im Kopfe den Frieden des Grabes stört, mit dem ist’s ein ander Ding – er wird nicht der Strafe entgehen.«
Ich leugne nicht, daß Outzens Worte mich reizten; denn zu hören, daß man im Begriff stehe, eine verwegene Tat zu begehen, nur weil man betrunken und übermütig sei, ist etwas, das man sich nicht gern sagen läßt, zumal wenn man kaum zwanzig Jahre auf dem Rücken hat. Ohne ein Wort auf seine Einwendungen zu erwidern, riß ich daher den großen, mir wohlbekannten Schlüssel vom Türpfosten und war in zwei Sprüngen draußen auf der Treppe, indem ich schwor, mir einen Arm zu verschaffen, koste es, was es wolle, und dadurch sowohl Outzen als auch Sölling und allen andern zu beweisen, daß ich ein Teufelskerl, so recht ein beherzter Bursche sei.
Mit klopfendem Herzen schlich ich durch den langen, finsteren Gang, welcher, an den Überresten des St. Clara-Klosters vorüber, in den sogenannten dritten Hof führt. Hier nahm ich eine Laterne aus der Kutscherkammer, zündete sie an und ging, mit der Laterne in der Hand, auf die mir wohlbekannte Mühle zu, wo der Quarz zermalmt und gemahlen wird. Wie seltsam sah sie doch bei der flackernden Beleuchtung des Talglichts in der Laterne aus, mit ihren vielen Kammrädern, Triebrädern und Walzen, mit ihren Knetmaschinen und Stampfen, unter welchen die Steine zermalmt werden! Schon hier begann der Mut mir zu sinken, als ich die dumpfe, feuchte Luft einatmete; aber ich ermannte mich, putzte das Licht, und schloß die Türe zum vierten Hof mit dem Schlüssel auf, den ich sodann wieder zu mir steckte. Wenige Schritte, und ich befand mich im Hofe und stand einen Augenblick später auf der Grenzscheide. Das ganze hohe, schwarze Plankwerk war in seiner Länge niedergerissen, und man hatte die Erde tief aufgegraben, um festen Halt für eine neue Scheidemauer zwischen Leben und Tod zu gewinnen. Die öde, unheimliche Leere des Ortes ergriff mich tief, und unwillkürlich stand ich still, um mich gleichsam gegen die Situation zu stählen.
Es war ein rauher, kalter, stürmischer Abend; die Wolken trieben schnell und in
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