18 Geisterstories
Hunger. Es handelte sich in der Tat um ein ganzes künftiges Buch der amerikanischen Geschichtsschreibung, das dem Colonel durch den Kopf ging, aber für ihn war das alles die Gegenwart – in solchem Maße hatte er diesen Krieg als ein zusammenhängendes Ereignis erfahren. An diesem Tag des Sieges gab es keine Vergangenheit. Hier war die gesamte Revolution. Sie war die Luft – frisch, rege, verheißungsvoll –, die Washington und er atmeten.
Washington streckte die Depesche über den Tisch hin. Tilghman trat vor, um sie entgegenzunehmen. Da änderte Washington seine Absicht und erhob sich, ragte gewichtig empor, als er stand, so daß sein angegrautes rotes Haar, das wochenlang des Puders entbehren mußte, fast ans Zeltdach rührte. Seine Feldkleidung war zerknittert und beschmutzt, und an seinem Kinn sah man helle Bartstoppeln. Hochgewachsen und schmutzig war er, und nun mußte er etwas tun und sagen, das den weiteren Verlauf der Geschichtebestimmte. Er tat es und sagte es – er übergab die Depesche seinem Adjutanten, welcher der Bote der Geschichte war, und sprach sein Wort in klarem förmlichen Tonfall aus. »Zum Kongreß, Colonel.« Colonel Tilghman nahm die Rolle entgegen. Die Botschaft von einer großen Wende ›im Lauf der Weltgeschichte‹ war in seinen Händen.
»Jawohl, Sir«, sagte er. »Zum Kongreß.«
Und die Kürze der Äußerung, die eine so gewaltige Bedeutung besaß, erheiterte sie beide. Sie lächelten. Ihre vom Wetter gezeichneten Gesichter zeigten wie für einen kurzen Moment geöffnete Fenster etwas von der Erleichterung, die an jenem Morgen auf dem Schlachtfeld die Herzen aller Soldaten der Kontinentalarmee erfüllte. »Reitet, Colonel«, sagte George Washington unverändert klar und ruhig, doch nicht länger ganz so förmlich.
»Jawohl, Sir«, erwiderte der Colonel nochmals. Er drehte sich um und schritt hinaus.
Das Schlachtfeld von Yorktown im Jahre 1974, eine Nationale Gedenkstätte, lag von Menschen des Jahres 1974 nahezu verlassen, aber lieblich und duftig in der herbstlichen Sonne. Ein paar Autos befuhren die Straße, einige kleine Gruppen von Besuchern schlenderten durchs Gras. Hier waren der lange Friede, die festgehaltene Ehre. Nichts davon war sichtbar für den Geist von Colonel Tench Tilghman, den Adjutanten und Sekretär George Washingtons. In ihm stak das Leben des Jahres 1781 und schuf die Welt rings um ihn. Er sah das Feld der Entscheidungsschlacht. Die Sonne von 1781 schien auf sein Haupt, und das Erdreich von 1781 knirschte unter seinen Stiefeln.
Überall in seiner Sichtweite waren Zelte und Lagerplätze. Soldaten in vielerlei Röcken strömten umher. Die Franzosen trugen ihre heimatlichen traditionellen Uniformen in hellen Farben; manche Amerikaner staken in verblichenem Blau und Lohgelb, andere waren in abenteuerlich lumpigen Aufputz gekleidet. Dort waren die Gräber der auf den Schanzen 9 und 10 gefallenen Männer – zwei flache Hügel frischer Erde, einer für die Franzosen, einer für die Amerikaner; doch diese Grabhügel waren nicht voneinander unterscheidbar. Sie sahen gänzlich gleich aus. Und dort waren die Kanonen, die Werkzeuge der vorangegangenen Belagerung, die den Feind niedergezwungen hatte. Von der französischen Flotte stammten sie, und zum Beweis dafür, daß sie Schiffswaffen waren, bestand ihre Zier (neben dem Wappen von Bourbon) aus kleinen, wunderschönen schmiedeeisernen Delphinen an ihren Lafetten. Ja, die Kanonen. Um die halbe Welt waren sie gekommen, damit man die ganze Welt verändere. Alle die Tausende von Männern auf dem Schlachtfeld des Jahres 1781 wußten um den Sieg. Ein paar tausend Menschen
Weitere Kostenlose Bücher