1812 - Ein historischer Roman (German Edition)
erkennen.
»Ich darf nicht von meinen Befehlen abweichen. Doch ist dem so, wie ihr sagt, so geht hier zwischen den Mauern hinunter; nach zweihundert Schritten trefft ihr den nächsten Posten; diesen fragt nach dem Offizier. Er ist im Wachthause unfern von dort und wird euch gewiß durch einige Mann, die sich von der Wahrheit überzeugen können, geleiten lassen, damit euer frommes Werk weniger Aufschub erleide.«
»Zweihundert Schritte von hier steht der nächste Posten?« fragte der verhüllte Mann jetzt mit einer Stimme, die nicht mehr den frommen Klang von zuvor hatte.
»Zweihundert.«
»Das ist ziemlich weit.«
»Ich kann's nicht ändern.«
Der Fremde schien unschlüssig; es herrschte ein gespanntes Schweigen. In diesem Augenblicke glänzte wieder jener helle Flackerschein vom Flusse her, diesmal aber ganz nahe, und zugleich hörte man deutlich das Rauschen eines Ruderschlags. Bernhard stutzte und wandte sich gegen den Strom um; eine Ahnung, als sei diese Erscheinung mit der vor ihm nicht ohne Zusammenhang, blitzte in ihm auf. Doch der Gedanke war nicht so schnell in seiner Seele aufgestiegen, als er sich plötzlich von starker Faust im Nacken gepackt fühlte und eine Dolchspitze gegen seine Brust blitzen sah. Der Stoß traf, glitt aber an dem breiten Riemen seines Wehrgehenks ab und streifte nur die Haut. Durch einen gewandten Schwung riß er sich los, packte die Hand, in der der Angreifer den Dolch hielt, kräftig mit der Linken im Gelenk an und führte mit der Rechten einen Säbelhieb gegen das Haupt des unbekannten Feindes. Dieser beugte sich zurück, entging so dem Schlage, glitt aber aus und lag am Boden; jetzt riß Bernhard das Pistol heraus, hielt es dem Liegenden auf die Brust und rief: »Du bist des Todes, wenn du dich regst.« Doch in demselben Augenblicke warf sich die weibliche Gestalt zu seinen Füßen nieder, hob die abwehrenden Arme flehend gegen ihn empor und rief mit dem Ausdrucke der höchsten Angst: »Erbarmen! Erbarmen! Tötet ihn nicht!«
Bernhard stand erstaunt; die Stimme drang in das Innerste seines Herzens ein. Er war im Begriff gewesen, laut um Hilfe zu rufen, doch der Anblick der Flehenden, die seine Knie umfaßte, zeigte ihm, daß er Gefahr hier nicht zu fürchten habe. »Ich will keine Rache nehmen,« sprach er entschieden, »aber meine Pflicht fordert Strenge. Ich muß Verdacht schöpfen; ihr seid mein Gefangener.«
»Schießt mir nur durch die Brust, junger Mensch,« sprach der noch am Boden Liegende finster; »denn euer Gefangener zu sein ist mir verabscheuungswerter als der Tod!«
»O mein Vater!« rief jetzt das junge Mädchen außer sich und ergriff seine Hand. »Nein, nein, nicht so. Er wird mitleidig sein! Ach, ich will für Sie flehen!« Sie sprang auf und wandte sich zu Bernhard.
»O, Ihre Sprache verriet, daß Sie den Gebildeten angehören! Ihr Herz wird den Schmerz einer Tochter begreifen. Wir sind verloren, wenn Sie uns nicht die Flucht gestatten. Seien Sie großmütig; lassen Sie uns entfliehen. Ich wollte Ihnen Gold bieten, aber ich wage es nicht, einen Mann zu beleidigen, von dem ich eine edle Tat fordere!«
Bernhard stand im Kampfe mit sich selbst. »Ich darf nicht – hören Sie auf! Jedes Ihrer Worte erhöht die Strenge meiner Pflicht. Ich glaube, ich weiß, wen ich vor mir sehe!« Der Unbekannte hatte sich indessen emporgerichtet. »Sie sind ein Deutscher, was Sie auch hierher führen mag, Ihre ersten Pflichten sind vaterländische. Ich beteuere Ihnen, Sie verletzen diese nicht, wenn Sie meine Flucht gestatten!«
»Nein, beim ewigen Himmel, das tun Sie nicht,« rief das junge Mädchen und erhob die Hand zum Schwur; »es ist kein Verbrechen, zu dem mein Flehen Sie verleiten soll. Nie, nie wird Ihr Herz einen Vorwurf zu tragen haben.« In der Ferne ließ sich Waffengeklirr hören; man schien zu kommen. Bernhard horchte erschreckt auf. »O Himmel,« rief die Bittende, »wenn Sie noch eine Minute zaudern, ist es zu spät! Hören Sie das Flehen der Bedrängten!«
Bernhard stand im heftigsten Kampfe mit sich selbst. Sollte er die erste Pflicht der Ehre, die sein Stand ihm auferlegte, brechen? Sollte er vielleicht den Freund, der ihn retten half, ins Verderben stürzen? Und doch, sein eigenes Schicksal, mehr als alles aber die mit unbeschreiblicher Gewalt rührend in sein Herz dringende Stimme der Flehenden bezwang ihn. »Flüchtet denn,« sprach er hastig und ließ die bewaffnete Hand sinken; »doch ich darf, ich will nicht sehen wohin! Fort!
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