1812 - Ein historischer Roman (German Edition)
Anspruch. Sie hatte den Charakter ganz eigentümlich aufgefaßt, nämlich ihn aus den bestimmten Formen und Farben schweizerischer Volkstümlichkeit in ein halb ideales Gebiet übergetragen, ohne jedoch die charakteristische Besonderheit ganz daraus zu verbannen. In ihrer Kleidung hatte sie zwar einige Andeutungen der Schweizertracht beibehalten, allein dieselbe auf eigentümliche Weise hier und da geändert. Das Haar trug sie in freien Locken, nur mit wenigen Bändern lose geknüpft, deren eines, von dunkler Farbe, die freie weiße Stirn begrenzte; Hals, Brust und Nacken waren nicht so tief verhüllt wie in der wirklichen Volkstracht, obwohl sie das zierliche schwarze Mieder beibehalten hatte. Das Gewand dagegen fiel ihr, sittsamer als gewöhnlich, bis tief auf die Knöchel herunter, auch war es nicht so gebauscht, sondern zeigte,die Gestalt ungleich vorteilhafter. Mit großem Geschick wußte sie dennoch den zierlichen Fuß, den sie in saubere Zwickelstrümpfe gekleidet und in einen enganschließenden Schuh gelegt hatte, immer aufs vorteilhafteste zu zeigen, wodurch ihr Gang, ihr Stehen und Bewegen etwas sehr Anmutiges erhielt. Sie glich halb einer Schweizerin, halb einer Schäferin, wie die Idylle sie uns zeigt, und hatte auf diese Weise sehr glücklich die Forderungen volkstümlicher Charakteristik mit denen der idealisierenden Kunst ausgeglichen. Als sie die ersten Klänge ihrer lieblichen Stimme vernehmen ließ, erstaunte Ludwig, wie dies scheinbar so zarte Organ die Räume des ganzen, nicht kleinen Hauses so mit Wohllaut zu erfüllen vermochte. Von dem leisesten Anhauchen der Töne bis zum süßen, vollen Anschwellen derselben war der Klang in seiner silbernen Klarheit überall zu vernehmen; man fühlte niemals einen Mangel, sondern für das Zarteste wie für den heftigsten Ausdruck der Leidenschaft fand die bezaubernde Darstellerin immer das richtige Maß. Und da sie überdies den ganzen Körper in allen Bewegungen, bis zu dem leisesten Spiel der Mienen und Blicke, ganz mit der Seele des Tones erfüllte, so mußte das holdselige Bild, welches sie hinstellte, jedes Herz mächtig fesseln. Lodoiska zerfloß schon im ersten Akt fast in Tränen. Bei den Worten: »Wer hörte wohl jemals mich klagen!« in welchen Alisette gewissermaßen die Todesangst gewaltsamer Freude ausdrückte, während ihr Auge doch einen so unnennbar schmerzlichen Blick gen Himmel warf, daß man fühlte, wie ihr Herz brechen wolle in der Qual dieser Lust – bei diesen Worten, wo der Widerspruch des Wortsinnes mit der Empfindung einen so zerreißenden Eindruck hervorbringt, griff das erschütterte Mädchen unwillkürlich mit der Hand nach dem Herzen, als wolle sie dessen Beklemmungen lindern. Während zwei große Tränen wie Sterne an dem dunkeln Himmel ihres Auges aufgingen, zitterte ihre Brust unter einem leisen, verhaltenen Seufzer; sie war so von Mitgefühl bewegt, daß sie den Schmerz, welchen Alisette so täuschend darstellte, fast selbst empfand. Oder war es eine weissagende Stimme, die sich dunkel in ihrer Brust vernehmen ließ? War es eine wunderbare Ahnung, durch die Nähe derjenigen hervorgerufen, welche einen feindseligen Einfluß auf die Gestirne ihres Lebens zu üben drohte? Sah sie schon das schwarze Haupt der Natter, die sich noch unter duftenden Rosen verbarg?
Jaromir, dessen frisch lebendiges Gemüt durch jeden Eindruck rasch gefesselt wurde, war ganz Auge und Ohr. Gleich einer bezaubernden Armide wußte Alisette sein Herz zu leiten; Bernhard glaubte in der Tat zu bemerken, daß sie Spiel und Blicke häufig, wie schon am ersten Abende, gegen den schönen Jüngling richte. Doch war er selbst durch die holde Kunst des Mädchens so süß umsponnen, daß sogar er, dessen freier Blick selten beschränkt wurde, nicht Ruhe genug zur scharfen kalten Beobachtung behielt. Ging es doch allen versammelten Hörern und Zuschauern nicht besser; Alisette schien durch den Wink ihres Auges jede Brust zu beherrschen; unwiderstehlich hob sie das Herz aus der Tiefe der Schmerzen auf den Wellengipfel der Freude und ließ es ebenso schnell sinken als steigen.
Nach dem Schlusse des Akts verließ Regnard die Loge; Bernhard, der ihn mit Argusaugen verfolgte, sah, daß er auf die Bühne ging. Es wurde ihm immer unzweifelhafter, daß zwischen Alisetten und dem Obersten eine sehr nahe Verbindung bestand, doch war es ihm fast gewiß, daß Alisettens Herz wenig Anteil daran hatte.
Jaromir wandte sich zu Lodoiska und fragte sie: »Ist das nicht
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