1812 - Ein historischer Roman (German Edition)
Seele gedrungen sei.
»Es ist spät – ich muß gehen«, sprach sie nach einigen Augenblicken und wollte fort. – »Es ist so spät, daß ich Sie unmöglich allein gehen lassen kann,« rief St.-Luces, und Benno, im reinsten Wohlwollen, setzte hinzu: »Jawohl wir müssen Sie begleiten.«
Marie atmete leichter, als dieser reine Schutzengel sich ihr zugesellte; in St.-Luces' Zügen aber trat der schon vorher schlecht verhehlte Verdruß über Bennos Dazwischenkunft so auffallend hervor, daß er es mit den gewandtesten Worten nicht mehr vermochte, den Argwohn zu beschwichtigen, der Mariens Seele ergriffen hatte. Wenig sprechend ging man nebeneinander hin. Marie eilte nach Hause zu kommen. Als man sich wieder in der ersten Gasse der Vorstadt befand, streifte rasch eine fremde Gestalt von hinten her an den dreien vorüber, warf einen flüchtigen Blick seitwärts, grüßte und sprach im Vorübergehen: »Bon soir, Monsieur de St.-Luces!« – Dieser erwiderte den Gruß ein wenig überrascht, denn es war Beaucaire.
Man hatte das Hotel erreicht, wo die Gräfin wohnte; Marie nahm mit einem stummen, verlegenen Gruße Abschied von ihren Begleitern. Oben erzählte sie sogleich, was ihr begegnet sei. Die Gräfin hegte denselben Argwohn gegen St.-Luces und erhöhte ihn noch durch mancherlei nicht abzuweisende Bemerkungen, woraus die offenbare Absichtlichkeit seines Benehmens hervorging.
Die Uhr der Schloßkirche hatte eben zehn geschlagen, und die Frauen schickten sich nach der Sitte des Badeortes bereits an zur Ruhe zu gehen, als es stark an der Haustür schellte. Der Diener, brachte einen Brief herauf, den ein Unbekannter abgegeben hatte. Die Aufschrift war an Marien. Sie öffnete und fand nur einen Zettel mit den Worten: »Hüten Sie sich vor Herrn von St.-Luces! Ihr Freund.«
Wer war dieser rätselhafte Warner? Vergeblich bestrebten sich die Frauen, es zu erraten; der einzige, auf den sie vermuten konnten, war Benno. Und doch, was sollte er wissen oder ahnen? Voll neuer banger Sorgen legte sich Marie zur Ruhe; doch die ängstigenden Vorstellungen verfolgten sie auch in ihre Träume hinein, und sie erwachte oft verstört aus der schweren Betäubung des fieberhaften Schlafes. So rang sie zwischen Angst und Tränen. Ach, war es denn nicht genug, eine Mutter zu beweinen, mußte sie auch noch für das Haupt des Bruders zittern?
Zehntes Kapitel.
Marie hatte nur noch so lange in Teplitz verweilen wollen, bis ihre Mutter bestattet war und die mancherlei unerläßlichen Schritte, welche die gesetzlichen Pflichten bei Todesfällen herbeiführen, geschehen seien. Alsdann war es das Natürlichste für sie, zu der Schwester, der Dahingeschiedenen zu reisen und sich dem Schutze dieser, ihr so herzlich wohlwollenden Verwandten anzuvertrauen. Vorläufig hatte sie das traurige Ereignis durch einen Brief berichtet, auf den sie jedoch bis jetzt noch die Antwort erwartete.
Nach der unruhig und kummervoll halb durchwachten Nacht wurde sie endlich durch einen sanften Morgenschlummer mit beruhigenden Träumen erquickt, der sie bis weit über die gewöhnliche Stunde in seinen süßen Fesseln hielt. Als sie die Augen aufschlug, war es hoher Tag, so daß die Sonne schon über die Dächer der gegenüberstehenden Häuser ins Gemach schien. Fast beschämt über den langen Schlaf kleidete sie sich eilig, doch still an und trat in das gemeinschaftliche Frühstückszimmer. Mit Erstaunen sah sie gleich beim Öffnen der Tür einige fremde Damen in Trauerkleidern sitzen; doch ehe sie nur Zeit zu einer Vermutung hatte, fühlte sie sich schon von liebenden Armen umfangen. Es war Emma, die seitwärts von der Tür am Fenster sitzend, die Eintretende zuerst gesehen und erkannt hatte. Der freudig überraschte, doch wehmütige Ausruf beider Mädchen bewirkte, daß auch die andern Frauen, die Mariens leises Öffnen der Tür nicht bemerkt hatten, aufsprangen und ihr entgegeneilten. Es war Julie und ihre Mutter; alle drei kamen, um Marien in ihrer traurigen Einsamkeit aufzusuchen und sie liebend zurückzugeleiten.
Liebe und Freundschaft wetteiferten. Die Gräfin und Lodoiska wollten Marien noch nicht von sich lassen, ihre Verwandten sie so schnell als möglich zu sich nehmen. Endlich wurde beschlossen, daß die Gräfin und Lodoiska Marien auf einige Tage auf das Gut begleiten sollten, und man setzte die Abreise für den nächsten Morgen fest.
Nachdem man eine Zeitlang im vertraulichen Gespräche zugebracht, äußerten die Angekommenen den Wunsch, das Grab der
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