1812 - Ein historischer Roman (German Edition)
seinen Leuten den Schluß des Zuges zu bilden, um die Zurückbleibenden heranzutreiben; denn seit den letzten zwei Tagemärschen hatten sich schon so viele Nachzügler gefunden, die sich auf die späterhin folgenden Korps verließen und, bis diese herankämen, einige Ruhetage zu erhaschen glaubten, daß man dieser Unordnung auf alle Weise steuern mußte. Er ritt daher hinter der langen Reihe von Wagen, die teils noch Bagage, teils Lebensmittel und Verwundete fortführten. Die überflüssigen Munitionswagen und manche andere, die den Zug belästigten, hatte man bereits verbrannt und die Pferde vor die Kanonen gespannt. Denn obgleich das Wetter hell blieb, so glatteiste es doch jede Nacht, und alsdann konnte man mit den schlecht beschlagenen, ungeschärften Pferden selbst gelinde Abhänge kaum hinankommen, so daß die Artilleristen sich selbst mit vorspannten, um die ihnen anvertrauten Waffen, an die sie ihre Ehre setzten wie die Regimenter an ihre Adler, nicht zurücklassen zu müssen. Mit Mühe erreichte er das Biwak, aus dem man nach einer von Frost und Hunger gestörten Nachtruhe noch im Dunkeln wieder aufbrach. Der grauende Tag zeigte ein klägliches Schauspiel. Eine Menge Leute waren vor Entkräftung zurückgeblieben; es war unmöglich, sie in ihren Reihen zu halten. Dazu wurde der Weg schlimmer und die schlecht gefütterten Pferde schleppten sich nur mühsam vorwärts. Die Kolonnen rückten äußerst langsam vor. Es wurden zur Fortschaffung der Geschütze mehr und mehr Pferde nötig. Der Kaiser gab den Befehl, von allen Bagagewagen, selbst von denen der höhern Offiziere, die Hälfte der angespannten Pferde zu nehmen, um sie vor die Kanonen zu spannen. Da auf diese Weise die schon zu große Last für die halben Bespannungen eine nicht mehr fortzuschaffende wurde, mußte dieselbe in gleichem Maße vermindert werden. Man sah daher alles, was an entbehrlichen Geräten, selbst an Kunstwerken, auf den Wagen befindlich war, wie unnützen Ballast auswerfen, und was sich davon verbrennen ließ, durch das Feuer vertilgen.
Als Rasinski neben Jaromir an einem dieser noch brennenden Scheiterhaufen vorüberritt und sie ihre Pferde abseits lenken mußten, damit sie nicht in die Scherben kostbarer Porzellangefäße träten, die man unvorsichtigerweise mitten in den Weg geworfen hatte, sprach er zu ihm: »Erinnerst du dich noch des Vorfalls dicht bei Moskau, wo der gebrochene Wagen geplündert wurde? Hatte ich nicht recht zu sagen, daß jener Mann der glücklichste von allen sei, weil man ihm die vergebliche Sorge für seine Trödelschätze zuerst abgenommen hatte?«
»Freilich,« erwiderte Jaromir; »doch wer erkennt das? Glück und Unglück, ruhen sie nicht in unserer Brust? Und wenn wir uns durch den Schein täuschen lassen, ist es nicht dasselbe, als ob wir durch die Wahrheit leiden? Mir selbst ist es jetzt oft so erschienen, als ob wir erst spät einsähen was glückliche, was unglückliche Ereignisse für uns sind. Bei dem ersten Angriff, den wir in der Schlacht von Mosaisk machten, riß mir eine Kugel den Federbusch herunter. Ich pries mich glücklich, daß sie mich nicht einen Fuß breit tiefer traf. Und doch wäre es mein Glück gewesen! Denn wenn mich jetzt oder später das Los erreicht, was habe ich gewonnen als einige Tage der Qual? – Und dennoch fühlte ich mich in jenem Augenblicke wirklich froh. Was ist nun wahr, was ist falsch an unsern Gefühlen?«
»Die Gegenwart gehört uns wenigstens sicher«, sprach Bernhard, der neben Jaromir ritt. »Doch auch die nicht,« fuhr er rasch fort; »denn Zukunft und Vergangenheit können sie vergiften. Darum aber, weil uns nichts gehört, gehört uns alles. Wo kein Gebieter ist, herrscht der, der herrschen will, und unser ist, was unser Wille uns gibt.« – »Ich glaube doch nicht, daß du ganz recht hast,« meinte Boleslaw; »denn wie gering ist die Macht unsers Willens gegen die höhern Gewalten!« – »Das ist freilich die endliche Bedingung jedes Menschen,« sprach Ludwig; »allein alles dies gilt ja auch nur bis zu einem gewissen Grade. Ich glaube nicht, daß Bernhard leugnen oder behaupten will, es gebe nicht Glück, noch Unglück, sondern der Mensch bilde sich alles selbst; aber recht hat er, wenn er glaubt, daß es außer dem Glück, und sei es das edelste, das schönste, welches diese Erde bietet, noch etwas Höheres gibt, das uns mächtig zur Seite treten kann, wenn uns Schmerz oder Freude überwältigen. So weiß der Schiffer über der Sonne, die ihm die
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