1812 - Ein historischer Roman (German Edition)
Wasser, aber sie werden wieder aufsteigen, wie aus einem kochenden Zauberkessel, und euch, mächtig beflügelt, mit giftigem Hauche verfolgen. Seht ihr nicht, wie der schwere, dunstige Brodem aus dem Sumpfgrabe empordampft, worin ihr das heilige Kleinod versenkt habt? Aufsteigen werden sie gegen den hohen Dom des Himmels und sich zu furchtbaren Wettern sammeln, um sich über euerm Haupte zu entladen. Schon trübt sich die Sonne! Blickt wohl hin! Ihr seht sie nicht mehr wieder, so weit die Völker Rußlands vor dem Bilde des heiligen Iwan knien! Verhüllt bleibt euch ihr reines Antlitz, bis der letzte unter euch verjagt ist aus diesen Grenzen, wenn einer sie lebend erreicht, um das Verderben der andern daheim zu verkünden! Denn verfolgen wird euch der Zorn des Allmächtigen, solange ihr auf diesem Boden wandelt, den ihr mit frevelnden Füßen betratet, wo ihr einbrachet mit räuberischer Hand in das Heiligtum des Glaubens, der Heimat, des Herdes! Darum verschleiert sich das Auge des Weltalls düster, fürchterlich! Nur blutigrot wird es euch noch anglühen durch die graue Nebelhülle, mit der sich jetzt der Himmel umhängt.
Nun ruht das Kreuz des heiligen Iwan wieder auf seinem heimatlichen Boden! Entrissen ist es den befleckenden Händen der Frevler! Jetzt wird es seine alte, schützende Kraft bewähren, wird die Völker dieses unermeßlichen Reichs ringsumher um sich versammeln. Sie strömen herbei von den Ufern des Don und der Wolga, aus den Wäldern des Ural, aus den Steppen Asiens, den Schneewüsten des Pols, von den Küsten des Weißen und des Schwarzen Meeres! In tausend Trachten und Zungen, bewehrt mit Schwert und Lanze, mit Keule, Pfeil und Bogen fluten sie heran! Keine Waffe, die nicht zu euerer Vertilgung geschwungen wird, keine Sprache, in der die Völker nicht Rache über euch rufen! Wehe! Wehe euch! Die Stunde des Verhängnisses hat geschlagen. Preisen mögt ihr die, die gefallen sind, bevor sie diesen Tag sahen!
Sechstes Kapitel.
Ein rauher, eisiger Wind erhob sich gegen Abend. So dicht sich die ermüdeten Krieger um die Feuer lagerten, dennoch erstarrten ihnen fast die Glieder da, wo sie nicht der Flamme zugewandt waren. Mit Sehnsucht wurde die Morgenröte als das Ende dieser Qual erwartet. Endlich ertönte der Ruf der Trompeten und Trommeln zum Aufbruch. Doch gerade jetzt erst hatte der Schlaf angefangen, die Übermacht über Kälte und Hunger zu gewinnen, und jetzt mußten sich die durch Marsch und Wachen Übermüdeten mit Gewalt emporreißen. Viele waren selbst durch starkes Rütteln und Anrufen nicht in Bewegung zu setzen, so lähmten ihnen Kälte und Ermüdung die Glieder. Als sie endlich auf den Füßen standen, schwankten sie mit versagenden Knien einige Schritte, fielen aber bei der geringsten Unebenheit des Bodens taumelnd, wie betäubt wieder zu Boden. Rasinski trat auf eine Erhöhung, wo er die Feuer seines Biwaks übersah. »Hierher, Freunde,« rief er mit fester Stimme, »hier versammelt euch um mich! Auf, auf, zu Pferde!« Ihn schüttelte selbst noch der Nachtfrost, doch er bezwang die Natur mit seiner festen Willenskraft, um den Mut der Leute zu beleben.
Als die Stelle des Antretens genugsam durch viele Herangekommene bezeichnet war, ging er an den einzelnen Lagerfeuern umher, wo einige Säumige und Schwächere noch verweilten, und sprach ihnen Mut zu. »Rafft euch zusammen, Kinder! Die Nacht war rauh, aber der Tag wird besser sein. Wenn ihr erst in Bewegung seid, werdet ihr euch auch erwärmen. Das Frühstück war mager, aber ich habe es ohne Vorzug mit euch geteilt, und ihr seht, ich bin wohlauf. Verliert nur den Mut nicht; der zuerst Verzagende ist der zuerst Verlorene. Wir haben ja schon manchen bösen Tag zusammen überdauert, wie sollte euch heute der Mut sinken! Ein Pole verzagt nicht!« So zusprechend ging er durch die Reihen; sein Wort, ja schon ein bloßer Blick belebte den gesunkenen Mut der Leute. Bald saßen alle zu Pferde und begannen den Marsch.
»Es wird heute spät Tag werden,« sprach Bernhard zu Ludwig; »der Himmel muß dicht in graue Wolken gehüllt sein, denn es ist kein Stern zu sehen. Wie ist dir die Nacht bekommen?« – »Sie war hart; aber man lernt jeden Tag mehr überwinden«, erwiderte Ludwig. – »Ich glaube auch, der Mensch ist ein Gewächs, das sich leicht an alle Zonen gewöhnt. Wir rücken heute, deucht mir, in die kalte ein, wenigstens wenn ich meinen Rücken, der nachts gegen die Windseite lag, zum Thermometer mache, so müssen wir stark unter
Weitere Kostenlose Bücher