1812 - Ein historischer Roman (German Edition)
den Gefrierpunkt gefallen sein. Mein Leib und Gesicht dagegen hat die ganze Nacht in der heißen Zone geruht.«
»Suche nur deine Augen zu schonen, Lieber, du klagtest schon neulich darüber«, sprach Ludwig sanft. – »Was Wunder! Ich habe auch niemals gehört, daß Rauch von frischem Holze und heller Feuerglanz ein Konservativ für die Pupille wären. Indessen ist es wahr, meine Augen sind gewissermaßen meine Hobelbank, mein ernährender Pflug; ja sogar noch etwas Besseres, nämlich die Werkzeuge, mit denen ich den Honig aus dem Leben gewinne, was sonst, gleich der Lindenblüte, die doch nächst den Kräutern des Chamounytales den besten Honigseim absorbiert, etwas bitter schmecken möchte. Aber sind deine Augen dir das nicht etwa auch?« – »O gewiß,« sprach Ludwig wehmütig, denn er dachte an die holde Gestalt seiner Geliebten; »doch für dich ist das Kleinod dennoch teuerer.« Hierbei legte er dem Freunde die Rechte auf die Schulter, streifte dann am Arm hinab und faßte seine Hand, die er mit inniger Liebe drückte. »Der Wind ist verteufelt rauh!« rief Bernhard im unwilligen Zorn, um seine Rührung über den Freund zu verbergen, dessen Liebe nur an ihn dachte in dieser Zeit des Erduldens. »Ich wittere so etwas, als stecke Schnee in der Luft.« In der Tat wehte ein scharfer, eisiger Wind aus Nordwest her den Marschierenden entgegen. Nach einer Stunde hatte er schon das Angesicht bis zum Schmerz erkältet, doch schien er noch an Heftigkeit zuzunehmen.
Endlich dämmerte der Tag; aber was er enthüllte, konnte das stille Grauen der Nacht nur erhöhen. Dichtes schweres Gewölk zog über den Himmel dahin und schien mit jedem Augenblick sich tiefer zu sammeln. Über den Spitzen der die Straße begleitenden Fichtenwälder streifte der Nebel schon ganz nahe hin, so daß er die Gipfel der höchsten Bäume fast berührte. Er senkte sich mehr und mehr. »Es ist noch Hoffnung, daß wir einen klaren Tag bekommen«, sprach Ludwig zu Rasinski. – »O ja«, antwortete dieser rasch und zuversichtlich, glaubte aber das Gegenteil, weil er den Unterschied des russischen und des deutschen Winters kannte.
Die Dünste fielen nicht in Tropfen nieder; sie sanken nicht vor der steigenden Sonne herab, um einen heitern Himmel zu enthüllen, sondern sie verdichteten sich mehr und mehr und schwebten, in langsamen Kreisen ziehend, in der Luft. Es wurde einige Zeit windstill; in diesen wenigen Augenblicken aber stieg die Kälte auffallend, und darauf erhob sich der Wind wieder mit erneuerter Kraft und streifte mit eisig kalten Flügeln überhin. Plötzlich schienen die schwebenden Dünste gleichsam zu zerrinnen und sanken als dichter Reif herab. Aus höhern Luftregionen fielen einzelne große Schneeflocken nieder, und ehe man noch Zeit gehabt hatte, über die schnelle seltsame Veränderung zu erstaunen, schien der ganze Dunstkreis in Schneeflocken aufgelöst, die, vom Winde getrieben, wirbelnd und stäubend die Atmosphäre erfüllten. Mit Entsetzen sah der Soldat sich plötzlich vom Winter ringsum überfallen. Als habe er arglistig einen Hinterhalt gelegt, so schnob er von allen Seiten heran und warf das unermeßliche Netz über seine Beute hin. Der Schnee fiel so dicht und scharf, daß man ihn wie stechend auf der Wange empfand, bis diese in verklammender Erstarrung fühllos wurde.
Mit einem stummen Grauen zogen die Scharen der Krieger dahin. Das feste Land schien in wenigen Minuten in ein starres, pfadloses, unbegrenztes Meer verwandelt. Wie sollte sich der Ausweg aus dieser Wüste zeigen; wo man keine Sonne, keinen Stern, keine fernen Berggipfel oder Türme mehr entdecken, keine Straße gewahren konnte? Die Krieger, welche seit zwanzig Jahren von den Pyramiden Ägyptens und der Syrischen Wüste bis an die Mündung des Tajo, von den Gebirgen Kalabriens bis zu dem brausenden Belt, von den Pyrenäen bis an den Fuß des Ural die Erde kämpfend durchzogen waren und der Gefahr überall ein trotziges Auge gezeigt hatten, sie empfanden jetzt zum erstenmal das kalte Gespenst des Entsetzens in ihrer Brust und starrten mit ahnungsvollem Erbeben in das wirbelnde Chaos über ihrem Haupte hinauf, woher die flockigen Gewölke aus unabsehbarer Höhe wie ein schmerzlicher Insektenschwarm herniederstäubten. Das mit Schnee bedeckte und mit unheimlicher Schnelle gewebte Leichentuch deckte rings die Erde; es hüllte Flur und Wald in seine kalte Umarmung ein, und was es berührte, schien der Tod mit ewiger Erstarrung zu lähmen. Wie ein sich
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