1812 - Ein historischer Roman (German Edition)
erstickte jeden Laut – endlich rief sie mit angstvoller Gewalt: »Bruder! Bruder!« und sank lautlos, leblos, mit dem schönen Haupt an die Brust des vor ihr knienden Bernhard. Dieser hielt sie stumm, zitternd an sich gedrückt; seine eherne Kraft war weich aufgelöst; unaufhaltsame Tränen entflossen seinen Augen und netzten die Wangen der schönen Schwester, die in süßer Bewußtlosigkeit an seinem Herzen ruhte.
»Ludwig, Ludwig,« bat er diesen endlich mit weicher Stimme, »du bist besser, reiner als ich – bete du zu dem ewigen Vater, daß sie mir nicht stirbt – er wird dein Flehen hören! Holde, süße Rose, richte dein Haupt empor! Nicht jetzt brich, du heiliges Herz, noch einmal schlage lebend, lebend an der Brust des Bruders!«
In seinen Armen hob er die Schwester empor und ließ sie sanft auf die Ruhestätte nieder, wo er selbst vor wenigen Minuten zu einem neuen Leben erwacht war. Da schlug sie das tiefe blaue Auge wieder auf und hob den matten herabgesunkenen Arm, um ihn liebend um den Nacken des Bruders zu legen. Jetzt brach der milde Quell der Tränen hervor und erlöste die Brust von der überdrängenden Gewalt der Freude. Frei atmete sie auf und ein tiefer, unendlicher Himmel der Seligkeit schimmerte aus dem feuchten Glanz ihres Auges. »Ist es denn wahr? Ziehen nicht die Zauberbilder eines Traumes vor mir vorüber? Weile ich nicht jenseits in den Gefilden der Seligen? Ja, ja, du bist mein Bruder! Die Stimme meiner Brust täuscht mich nicht. Sie ist wahrhaftiger als die tausend Zeichen meiner Sinne, woran ich dich erkenne. Ich habe nun ein Herz, das mein ist auf dieser Welt; eine Brust, die mich nicht rauh zurückstößt, wenn ich zu ihr flüchten will! Nicht wahr, mein Bruder, du wirst mich nicht mehr verlassen?«
»Verlassen?« fragte Bernhard und drückte sie selig bebend, inniger an die Brust. »Wie die Pflanze im dunkeln Felsengrunde das Licht sucht, so sehnte ich mich nach einer Schwesterbrust! Und du wähnst, ich könnte dem warmen goldenen Strahl, der endlich in mein erstorbenes Herz dringt, den Kelch verschließen? Zum erstenmal in dieser heiligen Minute bricht das Licht durch die düstere Wolkenhülle meines Lebens! Zum erstenmal erblicke ich diese schöne Welt verklärt in seinem rosigen goldenen Schimmer! Grau, öde, schauerlich, in dunkeln Nebeln lag sie vor mir – jetzt glüht sie in tausend warmen Farben! Nein, nun soll uns nichts mehr trennen! Selbst nicht der Tod, denn ich vernichte mich selbst in dem Augenblicke, wo er dich grausam aus meinen Armen reißt!«
Siebentes Kapitel.
Man hörte Fußtritte und Stimmen auf dem Korridor. Die in ihre Seligkeit Versunkenen hätten sie nicht vernommen; doch Ludwig, dem Schmerz und Liebe jetzt die Brust beklemmten, dem düstere Ahnungen näher waren als frohe, er hörte sie. Von dem dunkeln Gefühl getrieben, daß das höchste Glück sich immer in den Schoß des Geheimnisses am sichersten birgt, trat er schnell zu Bernhard heran, ergriff ihn beim Arm und rief: »Freund! Man kommt!« – »Wer?« fuhr dieser heftig auf; »wer, den ich zu fürchten oder zu scheuen hätte?« – »Hier jeden,« rief Feodorowna und riß sich erschreckt aus seinen Armen, »hier ist jeder dem reinen Glück der Seele ein arglistig verschworener Feind! Kein Laut deiner Lippe, mein Bruder, verrate uns; es ist die erste Bitte deiner Schwester; o weise sie nicht zurück!« – »An einem Haar sollst du meine ungebändigtste Kraft zügeln, du Holdseligste«, sprach er weich. »Gebiete mir mit dem Wink deines Auges, und ich will ihn verstehen und dir gehorchen wie der Schatten deines Körpers, der der leisesten Bewegung deines Fingers gehorsam folgt.«
Willhofen, zwei Diener und Feodorownas Mädchen Jeannette traten ein. Die letzte redete ihre Herrin an: »Durchlauchtigste Fürstin, die Gräfin Dolgorow sendet mich mit dem Auftrage, Sie zu ihr zu rufen.«
»Ich wollte soeben kommen«, erwiderte Feodorowna. »Leben Sie indessen wohl,« fuhr sie, gegen Bernhard und Ludwig gewendet, fort; »in einer halben Stunde spätestens sehen wir Sie wieder, denn ich hoffe doch, daß Sie zur Abendtafel in den Saal kommen werden?« Ihre Blicke forderten ein Ja; Bernhard und Ludwig verbeugten sich stumm; sie schwebte aus dem Zimmer.
»Wir kommen mit einer ganzen Last Kleidungsstücke, meine gnädigen Herren«, sprach Willhofen. »Die Fürstin hat befohlen, die Garderobe ihres verstorbenen Gemahls hier herüberzubringen, damit Sie sich umkleiden können. Sie müssen nur
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