1812 - Ein historischer Roman (German Edition)
Augenblicke«, rief sie und machte eine hastige Bewegung mit den Händen gegen die Brust, als wollte sie ein Tuch losknüpfen. Wirklich zog sie ein grünes Florgewand hervor, riß es entzwei und gab die eine Hälfte Bernhard, die andere Ludwig. »Es ist der grüne Schleier,« sprach sie zu diesem, »den ich auf dem St. Bernhard trug. Seit ich wußte, daß er das Zeichen war, woran du mich wiedererkanntest, trug ich ihn auf meinem Herzen. Jetzt soll er mir das holde Licht der liebsten Augen erhalten. Verhülle dich damit, Geliebter, denn alles, was in diesem Lande glänzt und schimmert, ist kalt und grausam wie dieser Schnee und diese Sonne.«
Mit Rührung erblickte Ludwig das erste Zeichen, woran er seine Liebe knüpfte; es erquickte ihn mit neuer Hoffnung, daß es ihm gerade jetzt, in schreckenvoller Stunde, wo das Antlitz der Gnade sich ganz von der Erde wegzuwenden schien, wieder entgegenschimmerte. Eine tiefe Ahnung seiner Brust hatte es vom ersten Augenblicke an als einen Talisman betrachtet, der eine zauberische Bedeutung für sein Leben habe. So galt es ihm auch jetzt. Doch indem er es aus Biankas Hand empfing, blickte er sie sorglich an und fragte: »Aber du, Geliebte, wirst du geschirmt sein gegen das tödliche Gift dieses Glanzes?« – »Mich umhüllen ja noch die schwarzen Trauerschleier,« antwortete sie; »ich sollte sie wohl nicht tragen, denn aus ihrer Nacht brach ja mein schönster Lebenstag an!« Sie lächelte dabei mit holder Freundlichkeit und vergaß über ihr inneres Glück, daß der Nachen, der es trug, auf den Wogen äußerer Geschicke wie auf einem toten Meere des Grauens und Verderbens verloren schwankte.
Bernhard suchte, als er ihre bewegte Stimmung wahrnahm, heiter zu sein. »Ich danke dir, Schwester,« sprach er; »hier wird der Scherz Ernst und der Ernst Scherz. Unser ganzer Zug ist nur noch ein Maskenzug, doch tragen wir alle verwünschte Leichenlarven. Ich will denn über die meinige das grüne Netz hängen. Ein Maler muß überdies seine Augen schonen; ich würde über das Eismeer bei Chamouny so wandern, warum nicht über dieses größere?« Dabei knüpfte er das dünne Gewebe an seine Pelzmütze und drückte sie sich tiefer ins Auge. Die scharfe Kälte erschwerte das Atmen so, daß strenges Schweigen ein Gesetz wurde, welches sich jedes zuletzt auflegte. Der Zug glich einer langen Reihe weißer Gespenster, so hatten die als Reif niederfallenden Dünste ihre dichte Hülle von Eisspitzen über Roß und Mann gewoben. Mühselig schleppte man sich fort, und in den langsam sich bewegenden Massen herrschte eine dumpfe Todesstille. Alles, selbst der Laut der Lippen, wurde durch die furchtbare Kälte in die Banden der tiefsten Erstarrung geschlagen. Sogar der Hauch des Windes war gefesselt; Vögel stürzten tot aus der Höhe herab; die letzte Spur des Lebens schien aus der Natur verschwunden.
Die Wandernden vernahmen nichts als das pfeifende Kreischen des Schnees, das dumpfe Rasseln der Geschütze und das beklommene Stöhnen derjenigen, die mit dem versteinernden Tod in den Adern zu Boden sanken, um sich nie wieder emporzurichten. Diese sah man wanken, wie betäubt einige schwankende Schritte seitwärts taumeln und dann in die Knie sinken, deren abgestorbene Sehnen sie nicht mehr zu tragen vermochten. Bei einigen erzeugte die äußerste Verzweiflung noch eine trotzige Kraft, mit der sie sich gewaltsam aufstachelten. Sie lachten wild auf bei dem Anblick des Elends und riefen den Zusammenstürzenden ein frevelhaft höhnendes Lebewohl zu. Nur die edelsten und kühnsten Naturen zugleich behielten auch hier eine männliche Ruhe und Fassung; Rasinski hatte sie sich bewahrt. Sein Pferd, das er am Zügel führte, war vor Kälte zusammengestürzt. Er nahm die Pistolen aus der Halfter und setzte seinen Weg gleichmütig fort. Vergeblich boten Jaromir und Boleslaw, die der Kälte halber ebenfalls zu Fuß gingen und ihre Rosse führten, ihm die ihrigen an; er erwiderte: »Wir sind nur noch einzelne. Als Führer hätte ich ein solches Opfer nicht nur angenommen, sondern gefordert. Ein Regiment von unserer Stärke aber kann ein Rekrut so gut befehligen als ich; es gibt keinen Rang mehr.«
Doch hatte Boleslaw den Mantelsack, den Rasinski im Stich lassen wollte, abgenommen und schnallte ihn auf den seinigen. Über das tote Tier fiel eine hungerwütige Schar her, und zerriß es in tausend Stücke, zur Mahlzeit für die Nacht. Rasinski ging düstern Blickes vorwärts, um nicht zu sehen, wie schmählich das
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