1812 - Ein historischer Roman (German Edition)
eigentümlich und auch durch die Fremdartigkeit der Gegenstände fesselnd.
»Sie werden bemerken,« sprach Bernhard dazwischen, »daß das Buch zugleich einen geographischen Zusammenhang hat, da Sie daraus meine Reiseroute verfolgen und sehen können, wo ich mich mehr den Städten und Menschen genähert habe, wo ich in der Einsamkeit verweilte. Denn ich hatte mir's gleich anfangs zum Gesetz gemacht, nicht bald hier, bald dort aufzuschlagen und zu zeichnen, sondern ein Blatt nach dem andern zu benutzen und dabei womöglich auch Raum zu sparen, weil ich das Umherschleppen so vieler Dinge hasse und gern alles beisammen habe. Daher sind mir auch noch, obgleich ich dieses Skizzenbuch mit dem ersten Tage meiner Reise begann, einige große Blätter übriggeblieben, worauf ich diesen Turm und uns alle darin zeichnen kann, wenn das Wetter uns nur eine halbe Stunde gönnt. Aber sehen Sie hier diesen Bergschotten mit seiner Tochter; hinten die Partie gehört zum Kathrinsee. Wir werden nun mit jedem Blatte zivilisierter, denn es dauert nun nicht lange, so befinden wir uns in der besten Londoner Gesellschaft. Wahrhaftig, da ist schon eine Lady, der ich, ohne daß sie's wußte, ihr Porträt entwendete, da ich sie vor ihrem Landhause auf der Terrasse sitzen sah, während ich in einem Fliedergebüsch steckte.«
»Wie lieb und unschuldig sich das Kind an ihre Knie lehnt«, sprach Marie.
»Der Blumenstrauß, den es der Mutter bringt, ist aber wohl Ihre eigene Erfindung?« – »Keineswegs,« erwiderte Bernhard; »das vierjährige Lockenköpfchen hatte eine ganze Handvoll Federnelken, Aurikel und andere kleine Blumen abgerupft und hielt sie der Mutter dar, die es meines Erachtens dafür hätte abstrafen sollen, da schwerlich in einer Woche so viel nachwuchs, als der kleine holde Unhold in einer Minute abriß; allein sie lächelte und streichelte ihm das Köpfchen; auch dazu habe ich nicht für einen Heller erfunden. Überhaupt das ganze Buch ist nur gewissermaßen ein Taschenspiegel, in dem ich die Bilder der Wirklichkeit auffing.«
Man blätterte weiter. Es folgten einige karikierte Figuren, der englischen Post entlehnt, wie Bernhard erklärte, dann einige hübsche Landmädchen, Pachterstöchter, eine Milchverkäuferin. Endlich war man in London. Wie er zuvor gesagt, ließ er die Zeichnungen weiblicher Gestalten und Köpfe ohne Kommentar, was Ludwig sehr lieb war. Er erkannte nämlich, daß Bernhard diese Klausel gemacht hatte, um den Frauen eine Verlegenheit zu ersparen; denn unter den Londoner Erinnerungen fanden sich einige, die dem Männerblick unzweideutig als solche erscheinen mußten, über welche eine nähere Auskunft sich nicht ziemte. Daß ein Maler sie als psychologische Studien behandelt hatte, konnte man ihm nicht verargen. Zwischen den mutwilligen, lüsternen Gesichtern war wohl hier und da eine sanfte, gesittete Engländerin anzutreffen. – »O wie schön!« rief Marie, als Bernhard eben wieder ein neues Blatt umwandte; »wie außerordentlich schön!« Rasinski beugte sich, über diesen Ausdruck gespannt, näher über Mariens Schulter. Fast betroffen rief auch er: »Beim Himmel, dieser Kopf ist reizend!« – »Unbeschreiblich!« stimmte Marie ein. »Aber wer ist sie? Diese eine müssen Sie uns nennen«, setzte sie bittend hinzu.
»Wenn ich nun,« begann Bernhard, »gerade dieses Kopfes wegen meine Bedingungen gemacht hätte? Aber es ist nicht so, nur bin ich hier gezwungen, sie zu halten. Ich stahl dieses Gesicht wie Prometheus den göttlichen Funken aus dem Himmel, nämlich im Kings-Theater zu London, als ›Romeo und Julie‹ gegeben wurde, ich aber die Julie nur in einer Loge entdecken konnte, um die ich die Bühne übersah und überhörte. Da raubte ich diesen Kopf mit seinem sanft schwärmerischen Ausdruck.« – »O die rührenden Tränen!« sprach Marie.
Ludwig, der sich bis jetzt, um Rasinski nicht zu hindern, zurückgehalten hatte, beugte sich nunmehr nieder, um die Zeichnung zu sehen. Unbefangen hielt ihm Marie das Buch ganz nahe entgegen. Doch er, als rede ihn plötzlich die Stimme eines seligen, verklärten Geistes an, bebte im Tiefsten wunderbar erschüttert zusammen, da er Biankas Bildnis erkannte. Ein rascher Ausruf entfloh seinen Lippen; mehr durch Hilfe einer unbekannten unwillkürlichen Gewalt als durch eigene Fassung und Überlegung wurde er jedoch noch schnell genug seiner Herr, um dem »O Himmel!«, das ihm entflohen war, die kältern Worte: »Welch ein reizendes Wesen!« anzuhängen. Mehr
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