1830 - Der Tod lässt grüßen
Harry seufzte. »Das Opfer hier war ein Ukrainer. Kannst du damit etwas anfangen?«
»Nein, im Moment nicht. Hier in London hat es einen estnischen Obsthändler erwischt.«
»Nun ja, zumindest stammen beide aus dem Osten.«
»Das ist richtig.«
Wir konnten es drehen und wenden, zu einem Ergebnis kamen wir nicht. Hier lief etwas an uns vorbei, das sich auch nicht an einem Punkt festmachen ließ. Da kamen einige Dinge zusammen, die wir noch in die richtige Reihenfolge bringen mussten.
Harry stöhnte leise, bevor er fragte: »Was haben wir denn?«
»Nicht viel.«
»Zwei tote Opfer und zwei tote Killer.«
Stolz konnten wir darauf nicht sein, und so sprach ich das aus, was Harry möglicherweise auch dachte. »Wir müssen wohl auf den dritten Toten warten.«
»Das sehe ich auch so.«
»Und einen Verdacht, John, hast du nicht?«
»So ist es. Ich kann hinfassen, wo ich will. Ich greife immer hinein ins Leere.«
»Und deshalb werden wir abwarten müssen.«
Ich stimmte leider zu. Harry Stahl hoffte ja noch auf die genaue Spurenauswertung.
»Und da ist noch etwas«, sagte er.
»Raus damit.«
»Es gibt noch einen Frank Decker. Der Killer hatte einen Bruder.«
»Und weiter?«
»Dieser Frank Decker, John, wohnt nicht weit von Baden-Baden entfernt. Ich gebe dir Bescheid, wenn ich mit ihm gesprochen habe. Ist das okay?«
»Ja, das ist es.«
»Wann hören wir wieder voneinander?«
»Bald.«
***
Frank Decker war froh, es mal wieder geschafft zu haben. Die Stunden im Büro waren nicht eben eine Freude, aber er hatte sich den Job in der Personalabteilung der Stadt ja selbst ausgesucht. Jetzt saß er da und kam sich vor wie in einer Zelle mit unsichtbaren Gitterstäben. In den letzten Stunden war es um Krankmeldungen gegangen, und sein Chef hatte ihn gebeten, ihm eine Statistik über den Krankenstand zu machen. Dem Gefühl nach war er ihm zu hoch vorgekommen.
Jetzt hatte der Chef seinen Bericht, und Frank Decker konnte endlich Feierabend machen. Er dachte darüber nach, wie er den Abend verbringen sollte. Seine Wohnung lag in der Nähe des kleinen Flusses Murg. Er wohnte in Rastatt und war froh, hier nicht so viel Miete zahlen zu müssen wie in Baden-Baden.
Frank Decker lebte allein. Er war schon vierzig Jahre alt, aber mit einer Frau zusammenzuziehen oder gar zu heiraten kam ihm nicht in den Sinn. Eine lockere Beziehung zu führen, das war ihm viel lieber. Auch wenn man sich manchmal nur zum Wochenende sah, weil seine Freundin beruflich auch oft unterwegs war.
An diesem Abend setzte er sich in seinen VW Golf. Das heißt, es war noch kein richtiger Abend, sondern später Nachmittag. Über die Autobahn fuhr er nicht. Er rollte mit seinem Wagen über Land, wie er es immer nannte. Er hatte Zeit genug. Zudem lud das Wetter zu einer Landpartie ein.
Die frische Vorsommerluft strömte durch das offene Fenster in den Wagen. Er nahm den Duft einer blühenden Welt auf und wünschte sich, Urlaub zu haben. Doch da würde er noch warten müssen. Erst im Herbst konnte er fahren.
Er wohnte in einer kleinen Siedlung. Die Häuser dort waren alle nicht sehr hoch. Maximal vier Stockwerke wie in dem Haus, in dem er lebte.
Decker musste in die zweite Etage, die Wohnungen dort waren die Kleinsten. Mehr gut geschnittene Appartements, die sehr begehrt waren, denn es gab immer mehr Singles im Land. Für den Wagen gab es einen Stellplatz im Freien. Frank Decker rollte in die Parktasche hinein.
Er war froh, endlich zu Hause zu sein. Da konnte er einen Schluck nehmen und sich mit dem Glas auf den kleinen Balkon setzen. Er sah den Fluss, der sich durch das Tal wand, den blauen Himmel, der fast wolkenlos war. Das waren die Bilder, die ihm auch während der Arbeit immer wieder durch den Kopf huschten.
In wenigen Minuten würde er sie wieder live erleben, und darüber freute er sich.
Als er seine Wohnung erreicht hatte und die Tür aufschloss, erfasste ihn ein unbehagliches Gefühl. Er betrat den kleinen Flur vorsichtig, weil er damit rechnete, dass etwas passieren würde, aber es geschah nichts.
Deshalb schalt er sich einen Narren, als er weiter ging und die Tür zum Wohnraum aufstieß. Er hatte freie Sicht. Nicht nur auf das Fenster mit der Balkontür daneben, nein, er sah auch seinen Sessel, in dem ein Mann saß.
Und er war Frank Decker fremd!
***
In den nächsten Sekunden tat er nichts, sagte auch nichts, sondern musste erst mal mit sich ins Reine kommen. Dieser Mensch jagte ihm einen gehörigen Schrecken ein. Obwohl er nicht
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