19 Minuten
hier mit ihm treffen wollte. Er war zehn Minuten zu spät, und Jordan überlegte gerade, ob das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war, als King mit einem Windstoß hereingefegt kam. Er nahm Jordan gegenüber Platz und schnappte sich ein Stück Pizza von dessen Teller. »Es könnte klappen«, erklärte er und biss herzhaft zu. »Psychologisch gesehen besteht kein wesentlicher Unterschied zwischen der Therapie eines jungen Menschen, der über Jahre hinweg von Mitschülern schikaniert wurde, und der Therapie einer erwachsenen Frau mit Misshandlungssyndrom. Letztendlich lautet die Diagnose bei beiden auf posttraumatische Belastungsstörung.« Er legte den Rand des Pizzastücks zurück auf Jordans Teller. »Wissen Sie, was Peter mir erzählt hat?«
»Dass das Gefängnis ein großer Mist ist?«
»Ach, das sagen doch alle. Er hat gesagt, er wäre lieber gestorben, als noch einen Tag länger darüber nachzudenken, was ihm in der Schule alles passieren könnte. An wen erinnert Sie das?«
»Katie Riccobono«, sagte Jordan. »Nachdem sie beschlossen hatte, ihrem Mann mit einem Steakmesser einen dreifachen Bypass zu verpassen.«
»Katie Riccobono«, ergänzte King, »unser Bilderbuchfall für das Misshandlungssyndrom.«
»Dann wird Peter also das erste Beispiel für Misshandlungssyndrom bei schikanierten Schulkindern«, sagte Jordan. »Mal ehrlich, King. Glauben Sie, Geschworene können Verständnis für ein Syndrom aufbringen, das es eigentlich gar nicht gibt?«
»Geschworene haben schon öfter geschlagene Frauen freigesprochen, ohne je selbst Opfer gewesen zu sein. Aber alle Geschworenen in Peters Fall werden Erinnerungen an ihre Schulzeit haben.« Er nahm Jordans Cola und trank einen Schluck. » Wussten Sie, dass die Langzeitfolgen für jemanden, der als Kind ein einziges Mal Opfer von Schikanen war, genauso traumatisch sein können wie für jemanden, der in der Kindheit ein einziges Mal sexuell missbraucht wurde?«
»Das glaub ich nicht.«
»Überlegen sie doch mal. Der gemeinsame Nenner dabei ist die Erniedrigung. Fragen Sie zehn Menschen, und die Hälfte von ihnen wird sich an keinen bestimmten Vorfall aus ihrer Schulzeit erinnern - sie haben es verdrängt. Die andere Hälfte wird sich an irgendeinen unglaublich schmerzlichen oder beschämenden Augenblick erinnern. So etwas bleibt kleben wie Leim.«
»Das ist so unglaublich deprimierend«, stellte Jordan fest.
»Tja, die meisten von uns werden erwachsen und begrei-len, dass diese Vorfälle in der Gesamtheit des Lebens nur kleine Puzzleteilchen sind.«
»Und die anderen?«
King sah Jordan an. »Die werden so wie Peter.«
Eine traurige Wahrheit seines Singledaseins war, dass Patrick keinen Grund hatte, sich etwas zu kochen. Die meisten Mahlzeiten nahm er ohnehin unter Zeitdruck im Stehen in der Küche ein, warum also hätte er sich da mit Töpfen und Pfannen und frischen Zutaten rumschlagen sollen? Schließlich würde er sich nicht selber auf die Schulter klopfen und rufen: Patrick, tolles Rezept, wo hast du das her?
Ansonsten war er stadtbekannt in Pizzerien, Sandwich-Läden und Takeaways. Manchmal fühlte er sich zwar einsam, wenn er abends seine jeweilige Bestellung aufgab, aber andererseits hatte er auf diese Weise schon nette Bekanntschaften gemacht. Sal von der Pizzeria gab ihm immer extra Knoblauchbrot mit, der Typ,
der die Sandwiches belegte, zeigte stets auf Patrick und rief grinsend: »Ciabatta-Putenbrust-Käse-Mayo-Oliven-Peperoni-Salz-und-Pfeffer!«
Heute stand Patrick im Golden Dragon und wartete auf sein Essen zum Mitnehmen. Er sah May mit der Bestellung in der Küche verschwinden und richtete seine Aufmerksamkeit auf den Fernseher über der Bar, wo gerade ein Spiel der Red Sox anfing. Eine Frau saß allein an der Theke. Sie hatte dem Raum den Rücken zugewandt, während sie einen Fransenrand in ihren Untersetzer zupfte und auf ihren Drink wartete.
Patrick registrierte, dass sie einen tollen Hintern hatte und ihr Haar aus dem altjüngferlichen Knoten befreit werden sollte, damit es ihr frei über die Schulter wallen konnte. Der Barkeeper öffnete eine Flasche Pinot Noir, und auch das entging Patrick nicht: Die Frau trank nichts mit einem kleinen Papierschirmchen drin.
Er ging spontan zu der Frau hinüber und legte zwanzig Dollar auf die Theke. »Darf ich Sie einladen?«, fragte Patrick.
Sie drehte sich um, und für Sekunden war Patrick wie vom Donner gerührt.
Alex Cormier nahm den Zwanzigdollarschein und gab ihn Patrick zurück. »Sie
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