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Stattdessen muss ich bloß damit leben, dass die Leute mich anstarren, wenn ich mal ein knappes Top anziehe, weil dann die Narben vom Einschuss und der Tho-raxdrainage und der Naht zu sehen sind. Ist mir egal -früher haben sie auf die Pickel in meinem Gesicht geglotzt; jetzt haben sie eben eine andere Stelle, auf die sie sich konzentrieren können.
Ich hab viel über dich nachgedacht. Ich finde, du solltest schuldig gesprochen werden. Es ist fair, und was du gemacht hast, war nicht fair, und irgendwie ist das ausgleichende Gerechtigkeit.
Ich war mit dir im Französischkurs, wusstest du das? Ich hab am Fenster gesessen, zweite Reihe von hinten. Ich fand dich immer ein bisschen rätselhaft, und ich mochte dein Lächeln.
Ich wäre gern mit dir befreundet gewesen.
Es grüßt dich,
Angela Phlug
Peter faltete den Brief zusammen und schob ihn in den Kopfkissenbezug. Zehn Minuten später holte er ihn wieder hervor. Er las ihn die ganze Nacht hindurch immer wieder, bis die Sonne aufging; bis er die Worte nicht mehr sehen musste, weil er ihn auswendig konnte.
Lacy hatte sich für ihren Sohn angezogen. Obwohl es draußen angenehm warm war, trug sie einen rosa Angorapullover, den sie aus einer Kiste auf dem Speicher hervorgeholt hatte, weil Peter ihn als kleines Kind so gern gestreichelt hatte. Sie trug ein Armband, das Peter ihr in der vierten Klasse gebastelt hatte, aus bunten Papierperlen, die er aus den Schnipseln einer Illustrierten zusammengerollt hatte. Sie trug einen grau gemusterten, nicht besonders gut sitzenden Rock, über den Peter mal gewitzelt hatte, das Muster sehe aus wie das Motherboard eines Computers. Und sie hatte sich Zöpfe geflochten, weil ihr wieder eingefallen war, wie die Dinger Peter im Gesicht gekitzelt hatten, als sie ihm das letzte Mal einen Gutenachtkuss gab.
Sie hatte sich selbst etwas versprochen. Wie schwer es auch werden würde, wie heftig sie bei der Befragung auch würde schluchzen müssen, sie würde Peter ansehen. Sein Gesicht würde sie zwingen, sich zu konzentrieren, selbst wenn ihr Puls raste und ihr Herz stolperte; sie würde Peter zeigen, dass es noch immer jemanden gab, der unerschütterlich über ihn wachte.
Als Jordan McAfee sie in den Zeugenstand rief, geschah etwas Seltsames. Sie ging neben dem Gerichtsdiener her, doch anstatt geradewegs auf den kleinen Holzbalkon für die Zeugen zuzusteuern, bewegte sich ihr Körper wie von selbst in eine andere Richtung. Diana Leven wusste, wohin sie wollte, noch ehe Lacy selbst es begriff - sie erhob sich, um zu protestieren, entschied sich dann aber dagegen. Lacy strebte mit raschen Schritten, die Arme flach an den Körper gelegt, auf den Tisch der Verteidigung zu. Sie kniete sich neben Peter, sodass sie nur sein Gesicht sehen konnte. Dann hob sie die linke Hand und berührte es.
Seine Haut war noch immer weich wie die eines Kindes und fühlte sich warm an. Als sie ihm die Hand an die Wange legte, streichelten seine Wimpern ihren Daumen. Sie hatte ihren Sohn jede Woche im Gefängnis besucht, doch da war immer eine Barriere zwischen ihnen gewesen. Das hier - ihn mit Händen zu spüren, lebendig und real - war ein Geschenk, das man von Zeit zu Zeit hervorholen und bestaunen musste, damit man nicht vergaß,
dass man es noch immer besaß. Lacy beugte sich vor und tat das Gleiche, was sie getan hatte, als sie ihren Sohn zum ersten Mal in den Armen hielt: Sie schloss die Augen, sprach ein Stoßgebet und küsste ihn auf die Stirn.
Der Gerichtsdiener berührte sie an der Schulter. »Ma'am«, begann er.
Lacy richtete sich langsam auf. Sie ging zum Zeugenstand, öffnete das Geländer und trat ein.
Jordan McAfee kam auf sie zu und reichte ihr eine Kleenex-packung. Er drehte den Geschworenen den Rücken zu, damit sie nicht sahen, dass er etwas sagte. »Geht's?«, flüsterte er. Lacy nickte, sah Peter an und schenkte ihm ein Lächeln.
»Nennen Sie bitte Ihren Namen fürs Protokoll«, begann Jordan.
»Lacy Houghton.«
»Wo wohnen Sie?«
»Goldenrod Lane 1616, Sterling, New Hampshire.«
»Wohnen noch andere Personen dort?«
»Mein Mann Lewis«, sagte Lacy, »und mein Sohn Peter.«
»Haben Sie noch mehr Kinder, Mrs. Houghton?«
»Ich hatte noch einen Sohn, Joseph, aber er kam letztes Jahr bei einem Autounfall ums Leben.«
»Bitte schildern Sie uns«, sagte Jordan McAfee, »wie Sie am sechsten März erfuhren, dass an der Sterling Highschool etwas passiert war.«
»Ich hatte Nachtdienst im Krankenhaus. Ich bin Hebamme. Nachdem ich an
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