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19 Minuten

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Titel: 19 Minuten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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Schmerzverträglichkeit.
    Die nächste Wehe wand sich wie eine Kobra an ihrer Wirbelsäule hinab, wickelte sich um ihren Bauch und schlug ihre Fangzähne in ihre Eingeweide. Alex fiel in der Küche hart auf die Knie.
    In dem Kurs hatte sie gelernt, dass die Wehenphase zwölf Stunden oder länger dauern könnte.
    Wenn sie bis dahin nicht längst tot war.
    Als Lacy in der Hebammenausbildung war, hatte sie stets ein kleines Lineal zum Messen dabei. Jetzt, nach Jahren in dem Beruf, konnte sie mit einem einzigen Blick den Durchmesser einer Tasse oder einer Orange schätzen. Sie zog die Finger zwischen Alex' Beinen hervor und streifte sich den Latexhandschuh ab. »Zwei Zentimeter«, sagte sie, und Alex brach in Tränen aus.
    »Nur zwei? Das schaff ich nicht«, schnaufte Alex und krümmte den Rücken, um die Schmerzen zu lindern. Sie hatte versucht ihre Qual hinter der kompetenten Maske zu verbergen, die sie normalerweise trug, merkte aber, dass sie ihr irgendwo abhandengekommen war.
    »Ich weiß, du bist enttäuscht«, sage Lacy. »Aber sieh's mal positiv - du machst deine Sache gut. Wenn eine Frau ihre Sache bei zwei Zentimetern gut macht, dann auch bei acht. Also, lassen wir's langsam angehen, schön eine Wehe nach der anderen.«
    In einer Wehenpause half Lacy Alex aus dem Bett und führte sie zum Whirlpool. Sie dimmte das Licht, stellte die Entspannungsmusik an und zog Alex den Bademantel aus. Alex hatte inzwischen jede Schamhaftigkeit abgelegt, wäre zu allem bereit gewesen, wenn dadurch nur die Wehen aufhörten.
    »Rein mit dir«, sagte Lacy, und Alex ließ sich auf sie gestützt in den Whirlpool hinab.
    »Lacy«, keuchte Alex, »du musst mir was versprechen ...«
    »Was denn?«
    »Dass du es ihr nicht erzählst. Der Kleinen.«
    Lacy ergriff Alex' Hand. »Dass ich ihr was nicht erzähle?«
    Alex schloss die Augen und presste die Wange an den Rand der Wanne. »Dass ich sie erst nicht wollte.«
    Ehe sie antworten konnte, sah Lacy, wie Alex sich erneut verkrampfte. »Ganz ruhig atmen«, sagte sie. »Ganz ruhig.«
    Wer große Schmerzen hat, zieht sich in sich selbst zurück. Lacy hatte das unzählige Male erlebt. Endorphine - das natürliche Morphium des Körpers - werden freigesetzt und tragen dich weit weg, dorthin, wo der Schmerz dich nicht finden kann.
    Seit drei Stunden nun hatte Alex die Fassung wieder gewonnen, dank des Anästhesisten, der ihr eine Epiduralanästhesie gegeben hatte. Sie hatte eine Weile geschlafen; sie hatte mit Lacy Karten gespielt. Doch jetzt hatte sich das Baby gesenkt und sie begann zu pressen. »Wieso hab ich wieder Schmerzen?«, fragte sie mit zunehmend hysterischer Stimme.
    »So ist das bei der Epiduralanästhesie. Wenn wir die Dosis erhöhen, kannst du nicht pressen.«
    »Ich kann kein Baby kriegen«, platzte Alex heraus. »Ich bin noch nicht so weit.«
    »Na«, sagte Lacy. »Darüber sollten wir vielleicht noch mal reden.«
    »Ich weiß überhaupt nicht, was ich hier mache. Ich bin keine Mutter, ich bin Anwältin. Ich weiß ja nicht mal, wie man ein Baby wickelt.«
    »Die kleinen aufgedruckten Figürchen gehören nach vorne«, sagte Lacy, nahm Alex' Hand und führte sie zwischen ihre Beine, wo der Kopf des Babys bereits hervorschaute.
    Alex riss ihre Hand weg. »Ist das ...?«
    »Ja.«
    »Es kommt?«
    »Ob du so weit bist oder nicht.«
    Wieder setzte eine Wehe ein. »Oh, Alex, ich kann die Augenbrauen sehen ...« Lacy zog das Baby aus dem Geburtskanal, hielt den kleinen Kopf gebeugt. »Ich weiß, das tut höllisch weh ... das ist das Kinn... wunderschön...« Lacy wischte dem Baby das Gesicht ab, säuberte den Mund. Sie schwang die Nabelschnur über den Hals des Babys und blickte ihre Freundin an. »Alex«, sagte sie. »Den Rest machen wir zusammen.«
    Lacy legte Alex' zitternde Hände um den Kopf der Kleinen. »Halt sie so, ich versuch die Schulter zu fassen ...«
    Als das Baby schließlich in Alex' Hände glitt, ließ Lacy los. Schluchzend, erleichtert, hob Alex den kleinen, sich windenden Körper an ihre Brust. Wie immer war Lacy überwältigt davon, wie präsent ein Neugeborenes ist. Sie rieb den Rücken des Kindes und sah, wie die Kleine die verschwommenen blauen Augen das erste Mal auf ihre Mutter richtete. »Alex«, sagte Lacy. »Sie gehört dir, nur dir.«

Niemand will das wahrhaben, aber es wird immer wieder Schlimmes geschehen. Vielleicht deshalb, weil alles mit allem zusammenhängt und irgendwer vor langer Zeit als Erster etwas Schlimmes getan hat, was dazu führte, dass ein

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