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Titel: 19 Minuten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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doch ohne Weiteres unter der Jacke hereinschmuggeln. Jeder - ob Schüler oder Lehrpersonal - musste einen Ausweis um den Hals tragen. Damit, so die offizielle Begründung, Unbefugte auf Anhieb zu erkennen wären, aber Josie drängte sich der Gedanke auf, dass es so beim nächsten Mal einfacher wäre, die Toten zu identifizieren.
    Vor der ersten Stunde meldete sich der Schulleiter über die Lautsprecheranlage und hieß alle an der Sterling High willkommen. Obwohl es gar nicht die Sterling High war. Er bat um eine Gedenkminute.
    Während andere in der Klasse den Kopf senkten, blickte Josie sich um.
    Sie fragte sich, ob die anderen genau wie sie Angst davor hatten, der Toten zu gedenken, weil sie sich dann schuldiger fühlten.
    Kurz darauf stieß Josie bei einer unbedachten Bewegung mit dem Knie gegen den Tisch. Die Tische und Stühle waren für Grundschüler gemacht, viel zu klein für die Highschool-Flücht-linge. Einige aus ihrer Klasse hatten unter den Tischen nicht mal genug Platz für ihre Beine und mussten sich die Schulhefte zum Schreiben auf den Schoß legen.
    Ich bin Alice im Wunderland, dachte Josie. Seht, wie ich falle.
    Jordan wartete, bis sein Mandant ihm gegenüber Platz genommen hatte. »Erzähl mir von deinem Bruder, Peter«, sagte er.
    Er musterte das Gesicht des Jungen, sah so etwas wie Enttäuschung oder Abwehr darin aufblitzen, weil Jordan etwas zutage gefördert hatte, das er lieber hätte ruhen lassen. »Wieso?«, entgegnete Peter.
    »Habt ihr zwei euch gut verstanden?«
    »Ich hab ihn nicht umgebracht, falls Sie das meinen.«
    »Mein ich nicht.« Jordan zuckte die Achseln. »Ich wundere mich nur, dass du ihn mit keinem Wort erwähnt hast.«
    Peter sah ihn wütend an. »Wann denn? Als ich den Mund halten sollte bei meiner Vorführung vor dem Richter? Oder danach, als Sie gesagt haben, Sie würden das Reden übernehmen und ich hätte zuzuhören?«
    »Wie war er?«
    »Mann. Joey ist tot, wie Sie offensichtlich wissen. Ich wüsste nicht, was es bringen soll, über ihn zu reden.«
    »Wie ist er gestorben?«, hakte Jordan nach.
    Peter fuhr mit dem Daumennagel über die Metallkante des Tisches. »Der Superknabe hat sich von einem betrunkenen Autofahrer plattfahren lassen.«
    »Schwer zu toppen«, stellte Jordan fest.
    »Was meinen Sie damit?«
    »Na, dein Bruder ist sein Leben lang Mr. Perfect junior, nicht? Das allein ist schon eine harte Nuss, und dann stirbt er und wird auch noch ein Heiliger.«
    Jordan spielte den Advocatus Diaboli, um zu sehen, ob Peter anbiss, und tatsächlich, das Gesicht des Jungen veränderte sich. »Dagegen kommt keiner an«, sagte Peter mit Vehemenz. »Dagegen hast du keine Chance.«
    Jordan trommelte mit einem Bleistift auf den Rand seiner Aktentasche. Steckte hinter Peters Zorn Eifersucht oder Einsamkeit? Oder war das Massaker ein Mittel gewesen, um endlich wahrgenommen zu werden, statt hinter Joey bis zur Unkenntlichkeit zu verblassen? Wie konnte er überzeugend vermitteln, dass Peters Amoklauf eine Verzweiflungstat war, kein Versuch, seinen Bruders zu übertrumpfen?
    »Vermisst du ihn?«, fragte Jordan.
    Peter verzog das Gesicht. »Mein Bruder, der Kapitän der Baseballmannschaft; mein Bruder, der Beste im Französischwettbewerb; mein Bruder, der beim Schulleiter einen dicken Stein im Brett hatte; mein Bruder, mein fabelhafter Bruder, der mich immer eine halbe Meile vor der Schule abgesetzt hat, damit auch ja keiner sah, wie er mit mir im Auto ankam.«
    »Wieso denn?«
    »Ich galt nicht gerade als der Jackpot.« Peter verzog das Gesicht, als habe er Schmerzen.
    »Es ist nicht unbedingt von Vorteil, mit mir gesehen zu werden, ganz schlecht fürs Image, wussten Sie das noch nicht?«
    Jordan musste an seine zerstochenen Reifen denken. »Hat Joey dir nicht geholfen, wenn du schikaniert wurdest?«
    »Soll das ein Witz sein? Joey hat das Ganze doch erst losgetreten.«
    »Wie?«
    Peter stand auf und trat in dem kleinen Raum ans Fenster. Eine fleckige Röte stieg ihm den Hals hoch, als würden Erinnerungen sich in sein Fleisch brennen. »Er hat herumerzählt, ich wäre adoptiert. Meine Mutter wäre eine Crackhure, und deshalb hätte ich auch nen Hirnschaden. Manchmal hat er das auch in meinem Beisein erzählt, und wenn ich sauer wurde und ihm ins Gesicht gesprungen bin, hat er bloß gelacht und mir eine reingehauen, und dann hat er seine Freunde angeguckt, als wäre das der beste
    Beweis für alles, was er ihnen gesagt hat. Also, Sie wollten wissen, ob ich ihn vermisse?«, sagte

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