19 Minuten
Sie hatte eine Mutter, die sich zu ihr ans Bett setzte, wenn sie weinte, eine Mutter, die sich Urlaub von ihrem superwichtigen Job genommen hatte, um für Josie da zu sein. Und was tat Josie? Sie stieß sie weg.
Als keiner zugesehen hat, hast du dich nie für irgendwas interessiert, was in meinem Lehen passiert ist, also glaub ja nicht, du kannst jetzt damit anfangen.
Plötzlich hörte Josie, wie ein Wagen in die Einfahrt einbog. Matt, dachte sie für den Bruchteil einer Sekunde, und schon hatte sich jeder Nerv in ihrem Körper schmerzhaft gespannt. Sie hatte tatsächlich noch gar nicht darüber nachgedacht, wie sie zur Schule kommen sollte - Matt hatte sie immer abgeholt. Nun, ihre Mutter würde sie hinbringen.
Von ihrem Fenster aus sah sie, wie Drew Girard aus seinem verbeulten Volvo stieg. Als sie unten war und die Haustür öffnete, kam ihre Mutter aus der Küche.
Drew stand in einem Streifen Sonnenlicht, schirmte die Augen mit der freien Hand ab. Den anderen Arm trug er noch in einer Schlinge. »Ich hätte vorher anrufen sollen.«
»Ist schon gut«, sagte Josie. Ihr war schwindelig. Sie bemerkte im Hintergrund die Vögel, die aus ihren Winterquartieren zurückgekommen waren.
Drew blickte von Josie zu ihrer Mutter. »Ich hab gedacht, na ja, ich könnte dich abholen.«
Plötzlich stand Matt bei ihnen. Josie spürte seine Hand auf ihrem Rücken.
»Danke«, sagte ihre Mutter, »aber heute bring ich Josie zur Schule.«
Und wieder wehrte sich etwas in Josie gegen ihre Mutter. »Ich will lieber mir Drew fahren«, sagte sie und schnappte sich ihren Rucksack. »Bis später, wenn du mich abholst.« Ohne sich noch einmal nach ihrer Mutter umzudrehen, lief Josie zu Drews Wagen, der wie eine Zufluchtsstätte in der Sonne schimmerte.
Josie wartete, bis Drew den Motor gestartet und rückwärts aus der Einfahrt gesetzt hatte. »Sind deine Eltern auch so?«, fragte sie und schloss dann die Augen, als sie die Straße hinunterfuhren. »Dass sie dir die Luft zum Atmen nehmen?«
Drew warf ihr einen Blick zu. »Ja.«
»Hast du mit irgendwem geredet?«
»Meinst du, mit der Polizei?«
Josie schüttelte den Kopf. »Mit einem von uns.«
Er schaltete in den nächsten Gang. »Ich hab John ein paar Mal im Krankenhaus besucht«, sagte Drew. »Er konnte sich nicht an meinen Namen erinnern. Er kann sich auch nicht an so Wörter wie Gabel oder Haarbürste oder Treppe erinnern. Ich hab an seinem Bett gesessen und ihm irgendwas erzählt, wie die Bruins bei den letzten Spielen abgeschnitten haben, so was, aber die ganze Zeit hab ich mich gefragt, ob er überhaupt weiß, dass er nicht mehr gehen kann.« An einer roten Ampel wandte Drew sich ihr zu. »Wieso nicht ich?«
»Was?«
»Wieso haben wir Glück gehabt?«
Josie wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie blickte scheinbar interessiert zum Fenster hinaus.
Schließlich fuhr Drew auf den Parkplatz der Mount Lebanon School. Neben dem Gebäude war ein Spielplatz mit Klettergerüst und Schaukeln - schließlich war hier früher eine Grundschule gewesen. Vor dem Haupteingang standen der Schulleiter und eine Reihe von Eltern, die die Schüler mit Namen aufriefen und ihnen Mut zusprachen, ehe sie hineingingen.
»Ich hab was für dich«, sagte Drew, und er griff hinter seinen Sitz, wo er eine Baseballmütze hervorholte. Der Schriftzug hatte sich längst abgelöst, und der Schirm war ausgefranst. Er gab sie Josie, und sie strich sacht mit einem Finger an der Innenseite entlang.
»Er hat sie in meinem Wagen liegen lassen«, erklärte Drew. »Ich wollte sie erst seinen Eltern geben, aber dann hab ich gedacht, vielleicht willst du sie ja.«
Josie nickte, während ihr Tränen in die Kehle stiegen.
Drew legte den Kopf aufs Lenkrad. Josie brauchte einen Moment, bis sie merkte, dass auch er weinte.
Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Danke«, brachte Josie heraus, und dann setzte sie sich Matts Baseballmütze auf. Sie öffnete die Beifahrertür und stieg aus, doch statt auf die Schule zuzugehen, betrat sie durch das verrostete Tor den Spielplatz. Sie ging bis in die Mitte des Sandkastens und blickte zurück auf ihre Fußspuren, fragte sich, wie viel Wind wohl nötig war, damit sie verschwanden.
Zweimal hatte Alex sich im Gerichtssaal kurz entschuldigt, um Josies Handy anzurufen, obwohl sie wusste, dass sie es während des Unterrichts ausgeschaltet ließ. Beide Male sprach sie ihr die gleiche Nachricht auf die Mailbox: Ich bin's. Ich wollte nur hören, wie es dir geht.
Alex hatte
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