193 - Im Schatten der Tower Bridge
Nebels zurückkehrten, würde April sie nicht sehen und die Freunde nicht warnen können. Dieser Gedanke versetzte sie beinahe in Panik.
Ein leises Knirschen drang an ihr Ohr. Sie fuhr herum und hielt den Atem an. Niemand war zu sehen, aber April traute dem Frieden nicht, denn irgend jemand mußte das Gräusch, das sie vernommen hatte, verursacht haben.
Sollte sie pfeifen?
Lieber zu früh, als zu spät, sagte sie sich und schob zwei Finger zwischen die Zähne.
Wenn sie Thomas und Mitch aber grundlos alarmierte…? Dann waren ihre Taschen noch nicht voll, und vielleicht war noch nicht einmal Hoffa frei.
Wenn sie den Pfiff hörten, würden sie das Geisterschiff Hals über Kopf verlassen. Und Hoffa?
Unschlüssig stand April da, die Finger im Mund. Plötzlich zuckte sie wie unter einem Peitschenhieb zusammen. War dort nicht soeben jemand durch die Dunkelheit gelaufen? Weißes, blusenartiges Hemd, rote Hose, schlohweißes Haar… Jetzt zögerte das blonde Mädchen nicht länger. Der Alarm war gerechtfertigt. Sie wollte, daß es ein lauter, gellender Pfiff wurde, denn der Nebel würde ihn dämpfen, und er mußte unter Deck zu hören sein.
Aber sie brachte keinen hörbaren Pfiff zustande. Es wurde nicht mehr als ein trauriges »Ffff… Ffff…« draus.
Die Schwärze der Nacht wurde mit einemrnal lebendig, so kam es dem Mädchen vor. Aus der Dunkelheit schälte sich eine hochgewachsene Gestalt, die in einen weiten Umhang gehüllt und deren Gesicht maskiert war. Sie hatte nur eine Hand - die rechte. Die linke wurde von einem blinkenden Haken ersetzt.
Hyram Todd!
Jetzt war April Wills ihres Lebens nicht mehr sicher…
***
Ich eilte zum Fenster und sah Julian Sampson noch fallen. Jetzt prallte er auf, und etwas Verblüffendes geschah mit ihm: er zerbrach, als bestünde er aus gebranntem Ton. Zerbrach - und löste sich auf wie der Schlangenschädel, den Mr. Silver abgeschlagen hatte.
»Schwarzblütler haben sich Noel also geholt«, sagte Mr. Silver grimmig.
»Und nach Waterloo gebracht«, sagte ich.
»Das war mit Sicherheit eine Lüge. Er sagte einfach irgend etwas.«
»Wieso hast du ihn durchschaut?« wollte ich wissen.
Mr. Silver hob die Schultern. »Ich habe sicherheitshalber in seinen Gedanken gelesen. Das heißt, ich wollte es tun - aber da war rein gar nichts. Und dann ging’s auch schon los.«
Meine Kehle wurde auf einmal eng. »Silver, diese Schlange - welche Farbe hatte sie?«
»Sie war violett«, antwortet der Ex-Dämon, und im selben Moment wußte er, worauf ich hinaus wollte. Wir kannte nur zwei schwarze Feinde, deren Magie violett war, wenn sie sichtbar wurde: Atax, die Seele des Teufels, und Morron Kull.
»Auf wen tippst du?« fragte ich den Hünen mit den Silberhaaren.
»Auf Morron Kull. Er hat sich der Sampson-Brüder bedient, um sich Noel Bannister unter den Nagel zu reißen. Er zieht mal wieder im sicheren Hintergrund die Fäden.«
***
Das Piraten-Phantom hatte April Wills entdeckt. Solche schöne, blutjunge Opfer waren ihm am liebsten. Das blonde Mini-Mädchen ergriff in heller Panik die Flucht, und Hyram Todd jagte hinter ihr her. April achtete kaum darauf, wohin sie lief. Sie wollte nur weg von hier, sich in Sicherheit bringen, ihr junges Leben retten. Es war eine Wahnsinnsidee gewesen, das Geisterschiff zu betreten. Thomas und Mitch würden das noch in dieser Nacht bereuen. April konnte nichts mehr für sie tun. Mit ihnen und Hoffa würde Todd dann schon drei Opfer haben.
Sie wollte auf keinen Fall Nummer vier sein!
Schnell und geschmeidig wie eine Gazelle lief sie, das Haar wehte wie eine gelbe Fahne hinter ihrem Kopf. Ob sich das Piraten-Phantom noch hinter ihr befand, wußte sie nicht. Sie nahm sich nicht die Zeit, zurückzuschauen. Jede Sekunde war wertvoll. April wollte keine einzige vergeuden.
Ihre hellgrauen Stiefel hämmerten über den Granit. Die Angst geißelte sie vorwärts. Wohin? Wohin? Sie konnte nicht ewig laufen. Sie brauchte Hilfe. Aber wo gab es jemanden, der es wagte, sich schützend vor sie zu stellen?
Steve Bedford fiel ihr blitzartig ein, und sie schlug sogleich einen Hacken, änderte die Fluchtrichtung. Sie war mit Steve befreundet gewesen, bis sie erfahren hatte, daß er mit dem organisierten Verbrechen in Verbindung stand. Das hatte April aufwachen lassen. Die Beziehung hatte einen Knacks abbekommen. April hatte Steve die Chance geboten, alles wieder ins Lot zu bringen. Aber er wollte nicht - oder konnte nicht. Als sie ihn vor die Wahl stellte, jene
Weitere Kostenlose Bücher