1976 - Das Jesus-Papier
wußte es nicht.«
Adrian überlegte. Sein Bruder war um die ganze Welt gereist, war den Abwehrbehörden der mächtigsten Nation der Welt entkommen. »Vielleicht unterschätzen Sie ihn.«
»Er ist keiner von uns. Kein Mann der Berge.«
»Nein«, sinnierte Fontine, »er ist etwas ganz anderes. Wonach würde er suchen? Das ist es, worüber wir nachdenken müssen.«
»Ein unzugänglicher Ort. Abseits von den Wegen. Terrain, das aus verschiedenen Gründen unzugänglich ist. Es gibt viele solche Gegenden. Die Berge sind voll von ihnen.«
»Aber Sie haben es doch vor einigen Minuten gesagt. Daß er seine - seine Optionen einengen würde.«
»Signore?«
»Nichts. Ich habe nur überlegt - schon gut. Sehen Sie, er weiß, wonach er nicht suchen muß. Er weiß, daß die Kassette schwer war. Sie mußte transportiert werden - mechanisch transportiert. Er hat außer dem Journal noch etwas, womit er anfangen kann.«
»Das wußten wir nicht.«
»Aber er wußte es.«
»In der Finsternis wird es ihm wenig nützen.« »Schauen Sie zum Fenster«, sagte Adrian. Draußen war das erste Morgenlicht zu sehen. »Erzählen Sie mir von diesem anderen Mann. Diesem Kaufmann.«
»Leinkraus?«
»Ja. Was hatte er damit zu tun?«
»Die Antwort ist mit seinem Tod untergegangen. Selbst Francesca weiß es nicht.«
»Francesca?«
»Meine Schwester. Als meine Brüder starben, war sie die Älteste. Man hat ihr den Umschlag gegeben...«
»Was für einen Umschlag?«
»Die Instruktionen Ihres Großvaters.«
...Wenn Alfredo nicht der Älteste sein sollte, sucht nach einer Schwester, wie es in den Bergen der Brauch ist...
Adrian entfaltete die Seiten des Testaments seines Vaters. Wenn solche Fragmente der Wahrheit über die vielen Jahre hinweg mit solcher Genauigkeit auftauchten, galt es, den zusammenhanglosen Erinnerungen seines Vaters mehr Aufmerksamkeit zu widmen.
»Meine Schwester hat seit ihrer Heirat mit Capomonti in Champoluc gelebt. Sie kannte die Familie Leinkraus besser als irgendeiner von uns. Der alte Leinkraus starb in seinem Laden. Da war ein Feuer. Viele dachten, es sei absichtlich gelegt worden.«
»Ich verstehe nicht.«
»Die Familie Leinkraus sind Juden.«
»Ich verstehe. Weiter.« Adrian blätterte in seinen Papieren.
...Der Händler war nicht beliebt. Er war Jude, und für einen, der erbittert kämpfte... solches Denken war unhaltbar.
Goldoni fuhr fort. Der Mann, der nach Champoluc kam und von der eisernen Kiste und der lang vergessenen Reise und der alten Eisenbahnlichtung sprach, sollte den Umschlag bekommen, der beim ältesten Goldoni hinterlegt war.
»Sie müssen verstehen, Signore.« Der Krüppel unterbrach sich. »Wir sind jetzt alle eine Familie. Die Capomontis und die Goldonis. Nach so vielen Jahren, in denen keiner kam, haben wir unter uns darüber gesprochen.«
»Jetzt sind Sie mir voraus.«
»Der Umschlag lenkte den Mann, der gekommen war, nach Champoluc zum alten Capomonti...«
Adrian blätterte zurück. Wenn es in Champoluc Geheimnisse zu hinterlassen gab, dann wäre der alte Capomonti ein Felsen des Schweigens und des Vertrauens gewesen.
»Als Capomonti starb, gab er seine Instruktionen seinem Schwiegersohn Lefrac.«
»Dann weiß es Lefrac?«
»Nur ein Wort. Den Namen Leinkraus.«
Fontine schoß in seinem Stuhl in die Höhe. Dann blieb er an der Kante sitzen, verwirrt. Und doch hatte das, was er gehört hatte, in seinem Bewußtsein etwas ausgelöst. So wie bei einem langen, komplizierten Kreuzverhör gewannen plötzlich isolierte Sätze, einzelne Worte Bedeutung, wo vorher dergleichen nicht existiert hatte.
Die Wörter. Er mußte auf die Wörter sehen, wie sein Bruder auf die Gewalt sah.
Er überflog die Blätter, die er in der Hand hielt, suchte, bis er das fand, was ihn beschäftigt hatte.
...ich kann mich nicht genau erinnern, worum es sich bei dem unangenehmen Zwischenfall handelte... war ernst und provozierte in meinem Vater... Ein trauriger Zorn... Eindruck, daß man mir Einzelheiten vorenthielt...
Vorenthielt. Traurigkeit.
...provozierte meinen Vater...
»Goldoni, hören Sie zu. Sie müssen sich jetzt erinnern. Ganz weit zurückerinnern. Etwas geschah. Etwas Unangenehmes, Trauriges, Ärgerliches. Und es betraf die Familie Leinkraus.«
»Nein.«
Adrian hielt inne. Goldoni hatte ihn nicht ausreden lassen.
»Was meinen Sie mit >nein« fragte er leise.
»Ich habe es Ihnen doch gesagt. Ich kannte sie nicht gut. Wir sprachen kaum miteinander.«
»Weil sie Juden waren? Ist das
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