1976 - Das Jesus-Papier
damals aus dem Norden zu Ihnen gekommen?«
»Ich verstehe Sie nicht.«
»Doch, ich glaube, Sie verstehen mich schon.« Adrian starrte ihn an. Der Krüppel wich seinem Blick aus. Fontine fuhr leise fort: »Sie brauchten sie gar nicht zu kennen - überhaupt nicht vielleicht. Aber jetzt belügen Sie mich zum erstenmal. Warum?«
»Ich lüge nicht. Es waren keine Freunde der Goldonis.«
»Oder der Capomontis.«
»Oder der Capomontis!«
»Sie mochten sie nicht?«
»Wir kannten sie nicht. Sie blieben unter sich. Andere Juden kamen, und sie lebten unter sich. So einfach ist das.«
»Das ist es nicht.« Adrian wußte, daß die Antwort in Reichweite war. Verborgen, vielleicht sogar vor Goldoni selbst verborgen. »Etwas geschah im Juli 1920. Was war es?«
Goldoni seufzte. »Ich kann mich nicht erinnern.«
»14. Juli 1920. Was geschah?«
Goldonis Atem ging jetzt stoßend, seine mächtigen Kinnladen wirkten straff. Die Stümpfe, die einmal Beine gewesen waren, zuckten in seinem Rollstuhl.
»Es hat nichts zu bedeuten«, flüsterte er.
»Lassen Sie mich darüber befinden«, sagte Adrian.
»Die Zeiten haben sich geändert. So viel hat sich in einem Leben geändert«, sagte der Mann aus den Bergen, und seine Stimme stockte. »Alle haben dasselbe empfunden.«
»14. Juli 1920!« Adrian ließ seinen Zeugen jetzt nicht mehr locker.
»Ich sage es Ihnen doch! Es hat keine Bedeutung!« »Verdammt noch mal!« Adrian sprang von seinem Stuhl. Er hätte auch nicht davor zurückgeschreckt, den alten Mann zu schlagen, und dann kam das, was er hören wollte.
»Man hat einen Juden geschlagen. Einen jungen Juden, der in die Kirchenschule eintrat. Man hat ihn geschlagen. Er starb drei Tage darauf.«
Goldoni hatte es gesagt. Aber nur einen Teil davon. Fontine trat einen Schritt zurück.
»Leinkraus' Sohn?« fragte er.
»Ja.«
»Die Kirchenschule?«
»In die staatliche Schule konnte er nicht eintreten. Es war ein Ort, an dem er lernen konnte. Die Priester haben ihn akzeptiert.«
Fontine setzte sich langsam, ohne Goldoni aus den Augen zu lassen. »Da ist noch mehr, nicht wahr? Wer hat ihn geschlagen?«
»Vier Jungen aus dem Dorf. Sie wußten nicht, was sie taten. Jeder hat das gesagt.«
»Sicher hat das jeder. So ist es einfacher. Unwissende Kinder, die man schützen mußte. Und was war schon das Leben eines Juden?«
Tränen traten in Alfredo Goldonis Augen. »Ja.«
»Sie waren einer von diesen Jungen, nicht wahr?«
Goldoni nickte stumm.
»Ich glaube, ich kann Ihnen sagen, was geschah«, fuhr Adrian fort. »Man hat Leinkraus bedroht. Seine Frau, die anderen Kinder. Nichts wurde gesagt, nichts berichtet. Ein junger Jude war gestorben, das war alles.«
»Es liegt so viele Jahre zurück«, flüsterte Goldoni, und die Tränen rannen ihm über die Wangen. »Niemand denkt mehr so. Und wir haben mit dem gelebt, was wir getan haben. Am Ende meines Lebens wird es noch schwerer. Das Grab steht mir jetzt bevor.«
Adrian hörte auf zu atmen. Goldonis Worte hatten ihn aufgerüttelt. Das Grab ist nahe - das Grab. War es das? Er wollte aufspringen und seine Fragen hinausbrüllen, bis der Krüppel sich erinnerte, sich genau erinnerte. Aber das konnte er nicht tun. Seine Stimme blieb leise, unschlüssig.
»Was geschah dann? Was hat Leinkraus getan?«
»Getan?« Goldoni zuckte langsam die Schultern, und in der Geste lag tiefe Trauer.
»Was konnte er tun? Er blieb stumm.«
»Gab es ein Begräbnis?«
»Wenn es eines gab, wußten wir nichts davon.«
»Leinkraus' Sohn mußte begraben werden. Kein christlicher Friedhof hätte einen Juden aufgenommen. Gab es eine Grabstätte für Juden?«
»Nein, damals nicht. Jetzt schon.«
»Damals! Was war damals? Wo ist er begraben worden? Wo hat man den ermordeten Sohn von Leinkraus begraben?«
Goldoni reagierte, als hätte man ihn ins Gesicht geschlagen. »Es hieß, der Vater und die Brüder - die Männer der Familie -hätten den toten Sohn in die Berge getragen. Wo keiner die Leiche des Jungen weiter entehren konnte.«
Adrian stand auf. Das war seine Antwort.
Das Grab des Juden. Die Kassette aus Saloniki.
Savarone Fontini-Cristi hatte in einer Dorftragödie ewige Wahrheit gefunden. Er hatte sie benutzt, am Ende. Er hatte nicht zugelassen, daß die heiligen Männer es vergaßen.
Paul Leinkraus war Ende der Vierzig, der Enkel des Kaufmanns und selbst ein Kaufmann. Aber ein Mann einer anderen Zeit. Es gab wenig, was er von einem Großvater berichten konnte, den er kaum gekannt hatte, oder aus
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