1976 - Das Jesus-Papier
Zunge an den Kopf genagelt. Ein Partigiano hat eine Tafel daruntergehängt. Auf ihr steht: >Dieses Schwein hat Italien verraten. Sein Blut fließt aus den Stigmata der Fontini-Cristis.<«
Vittorio wandte sich ab. Die Bilder, die er sah, brannten in seiner Seele: der weiße Rauch im weißen Licht, die Körper zerfetzt, im Tod zur Reglosigkeit erstarrt; Tausende von roten Flecken; die Exekution unschuldiger Kinder.
»Champoluc«, flüsterte Vittorio Fontini-Cristi.
»Wie bitte?«
»Mein Vater. Als er starb, als die Schüsse ihn durchbohrten, schrie er den Namen Champoluc. Etwas ist in Champoluc geschehen.«
»Was bedeutet das?«
»Ich weiß nicht. Champoluc ist in den Alpen, tief in den Bergen. >Zürich ist Champoluc. Zürich ist der Fluß.< Das hat er gesagt. Im Sterben hat er es geschrien. Aber es gibt keinen Fluß in Champoluc.«
»Ich kann Ihnen nicht helfen«, sagte Barzini und setzte sich auf. In seinen fragenden Augen und in der Art, wie er unschlüssig seine großen Hände aneinanderrieb, lauerte die Angst. »Es ist nicht viel Zeit, um darüber nachzudenken. Nicht jetzt.«
Vittorio blickte zu dem hünenhaften, verlegenen Stallmeister auf, der am Rand seines primitiven Bettes saß. Sie befanden sich in einem Raum, der aus schwerem Holz gezimmert war. Zu seiner Linken gab es eine Tür, die halb offenstand, drei oder vier Meter entfernt, aber da waren keine Fenster. Er sah noch ein paar weitere Betten, wie viele, konnte er nicht sagen. Eine Baracke für Arbeiter.
»Wo sind wir?«
»Auf der anderen Seite des Lago Maggiore, südlich von Baveno. Auf einem Bauernhof, wo Ziegen gezüchtet werden.«
»Wie sind wir hierhergekommen?«
»Eine Wahnsinnsfahrt. Die Männer unten am Fluß haben uns hergefahren. Sie haben auf der Straße westlich von Campo di Fiori mit einem schnellen Wagen auf uns gewartet. Der Partigiano aus Rom kennt sich mit Drogen aus. Er hat Ihnen eine Spritze gegeben.«
»Du hast mich bis zur Straße getragen?«
»Ja.«
»Das sind fast zwei Kilometer.«
»Kann sein. Sie sind groß, aber nicht besonders schwer.«
Barzini stand auf.
»Du hast mir das Leben gerettet.« Vittorio stützte die Hände auf die grobe Decke und richtete sich in sitzende Haltung auf, den Rücken an der Wand.
»Der eigene Tod bringt nicht die Rache.«
»Ich verstehe.«
»Wir müssen beide eine Reise machen. Sie müssen Italien verlassen, und ich muß nach Campo di Fiori.«
»Du gehst zurück?«
»Dort kann ich am meisten ausrichten. Am meisten Schaden zufügen.«
Fontini-Cristi starrte Barzini einen Augenblick an. Wie schnell doch das Unvorstellbare zur praktischen Realität wurde, wie schnell doch Menschen wild auf Wildes reagieren, und wie notwendig jene Reaktion doch war. Aber dafür war jetzt keine Zeit. Barzini hatte recht; das Nachdenken kam später.
»Gibt es für mich eine Möglichkeit, das Land zu verlassen? Du hast gesagt, ganz Norditalien wäre abgeriegelt.«
»Alle üblichen Wege. Es handelt sich um eine Menschenjagd, die Rom veranstaltet und von den Deutschen gelenkt wird. Es gibt andere Wege. Die Briten werden weiterhelfen, hat man mir gesagt.«
»Die Briten?«
»So heißt es. Sie waren die ganze Nacht in den Radios der Partigiani.«
»Die Briten? Das verstehe ich nicht.«
Das Fahrzeug war der alte Lastwagen eines Bauern mit armseligen Bremsen und einer Kupplung, die immer durchrutschte. Aber für die schlecht gepflasterten Feldwege reichte es aus. Motorrädern oder amtlichen Streifenfahrzeugen war er nicht gewachsen, dafür aber ausgezeichnet geeignet, auf dem Land von einem Punkt zum anderen zu gelangen -einfach ein kleiner Lastwagen, der ein paar Ziegen beförderte, die verstört auf der offenen, nur mit einem Bretterverschlag versehenen Ladebrücke herumtaumelten.
Vittorio war genauso gekleidet wie sein Fahrer. Er trug die schmutzigen, mit Dung verkrusteten, verschwitzten Kleider eines Landarbeiters. Man hatte ihm eine abgegriffene Kennkarte gegeben, auf der sein Name als Aldo Ravena ausgegeben war, einst Soldato in der italienischen Armee. Man würde davon ausgehen, daß seine Schulbildung lückenhaft war. Jedes Gespräch, das er etwa mit der Polizei führen mußte, würde einfach, primitiv und vielleicht ein wenig feindselig sein.
Sie waren seit Anbruch des Tages unterwegs, fuhren nach Süden in Richtung Turin, wo sie nach Südosten bogen, auf Alba zu. Wenn es keine ernsthaften Störungen hab, würden sie Alba bei Einbruch der Nacht erreichen.
In einer Espresso-Bar auf der Piazza
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