1976 - Das Jesus-Papier
Stallstraße.
Was sollte das bedeuten? Die Stallstraße begann am nördlichen Ende ihres Anwesens, fünf Kilometer vom Osttor entfernt. Trotzdem würde er sie benutzen. Sein Vater mußte einen Grund gehabt haben, diesen Befehl zu erteilen. Ohne Zweifel einen ebensowenig plausiblen Grund wie die verrückten Spiele, an denen er sich erfreute, aber sein Wunsch erforderte dennoch den oberflächlichen Gehorsam des Sohnes. Aber der Sohn würde seinem Vater gegenüber sehr fest und deutlich auftreten.
Was war in Zürich geschehen?
Er passierte das Haupttor der Straße, die aus Varese führte und fuhr auf die Weststraße zu, die fünf Kilometer dahinter die seine kreuzte. Er bog nach links und fuhr fast drei Kilometer bis zum Nordtor und bog dann wieder nach links nach Campo di Fiori. Die Stallungen waren einen Kilometer vom Eingang entfernt. Die Straße war nicht asphaltiert. Das war für die Pferde angenehmer, denn dies war die Straße, die die Reiter benutzten, wenn sie zu den Feldern und Wegen nördlich und westlich des Waldes in die Mitte von Campo di Fiori ritten. Der Wald hinter dem großen Haus wurde von dem breiten Strom, der aus den nördlichen Bergen herunterfloß, in zwei Teile geteilt.
Im Scheinwerferlicht sah er den alten Guido Barzini mit den Armen fuchteln, ihm ein Signal zum Anhalten geben. Der knorrige Barzini war etwas ganz Besonderes: so etwas wie eine Institution in Campo di Fiori, ein Mann, der sein ganzes Leben im Dienste des Hauses und der Familie verbracht hatte.
»Schnell, Signore Vittorio!« sagte Barzini durch das offene Fenster. »Lassen Sie Ihren Wagen hier. Es ist keine Zeit mehr.«
»Zeit wofür?«
»Der Padrone hat vor höchstens fünf Minuten mit mir gesprochen. Er sagte, wenn Sie jetzt kämen, sollten Sie ihn über das Telefon im Stall anrufen, ehe Sie ins Haus gehen. Es ist beinahe halb elf.«
Vittorio sah auf die Uhr am Armaturenbrett. Es war achtundzwanzig Minuten nach zehn. »Was geht hier vor?«
»Schnell, Signore! Bitte! Die Fascistil«
»Was für Fascisti?«
»Der Padrone. Er wird es Ihnen sagen.«
Fontini-Cristi stieg aus dem Wagen und folgte Barzini über den mit Steinplatten belegten Weg zum Eingang der Stallungen. An den Wänden hingen Halfter und alle Arten von Geschirren und zahlreiche Plaketten und Auszeichnungen, die die Überlegenheit der Zucht von Fontini-Cristi bewiesen. Und an der Wand hing das Telefon, das die Stallungen mit dem Herrenhaus verband.
»Was ist denn los, Vater? Hast du eine Ahnung, wer mich in Bellagio angerufen hat?«
»Basta!« brüllte Savarone über das Telefon. »Die werden jeden Augenblick hier sein. Deutsche.«
»Deutsche?«
»Ja, Rom glaubt, hier ein Partigiano-Treffen vorzufinden. Das werden sie natürlich nicht. Sie werden eine Familienveranstaltung stören. Vergiß das nicht! Die Familie wollte sich heute abend hier zum Abendessen treffen, das stand auf deinem Kalender. Du bist in Mailand aufgehalten worden.«
»Was haben die Deutschen mit Rom zu tun?«
»Das erkläre ich später. Du mußt nur daran denken...«
Plötzlich hörte Vittorio über das Telefon das Geräusch kreischender Reifen und schwerer Motoren. Eine Anzahl von Automobilen brauste vom Osttor auf das Haus zu.
»Vater!« schrie Vittorio. »Hat das etwas mit deiner Reise nach Zürich zu tun?«
Nach einer Weile sagte Savarone: »Vielleicht. Du mußt bleiben, wo du bist.«
»Was ist geschehen? Was ist in Zürich geschehen?«
»Nicht Zürich. Champoluc.«
»Was?«
»Später! Ich muß zu den anderen zurück. Bleib, wo du bist. Wo sie dich nicht sehen können. Wir sprechen uns, wenn sie wieder weg sind.«
Vittorio hörte das Klicken. Er wandte sich Barzini zu. Der alte Stallmeister wühlte in einer Kommode, die mit altem Kram gefüllt war. Jetzt hatte er gefunden, was er suchte: eine Pistole und einen Feldstecher. Er zog sie heraus und reichte beide Vittorio.
»Kommen Sie!« sagte er und seine alten Augen blickte zornig. »Wir sehen zu. Der Padrone wird sie eine Lektion lehren.«
Sie rannten die ungepflasterte Straße zum Haus und dem Garten, die dahinter anstieg, hinunter. Als der rauhe Boden in Pflaster überging, bogen sie nach links und kletterten auf die kleine Böschung, von der aus man einen Blick auf die kreisförmige Zufahrt hatte. Sie befanden sich im Finsteren. Die ganze Fläche unter ihnen war von Scheinwerferlicht erhellt.
Drei Automobile jagten die Straße vom Osttor entlang, lange, schwarze, schwere Maschinen, deren Scheinwerferbalken aus der
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