1976 - Das Jesus-Papier
hatte die linke Hand am Lauf, während die rechte nach dem Kolben griff. Fontini-Cristi warf sich mit seinem ganzen Gewicht gegen den Mann, schmetterte ihn gegen die Wand, beide Hände am Kopf des Mannes, so daß der gegen die harte Holzfläche prallte. Dem Soldaten fiel die Mütze herunter, Blut quoll unter seinem Haar hervor, rann ihm über den Schädel. Er sackte zu Boden.
Vittorio drehte sich herum. Der Caporale war in die Ecke des winzigen Wachhäuschens gezwängt, der Partisan stand über ihm und schlug ihm die eigene Waffe ins Gesicht.
»Schnell!« schrie der Partisan, als der Caporale zu Boden fiel. »Bringen Sie den Lastwagen her! Direkt vor das Häuschen! Bleiben Sie auf dem Seitenstreifen und lassen Sie den Motor laufen.«
»Gut«, sagte Fontini-Cristi, den die Brutalität des Mannes ebenso verwirrte wie sein schnelles, entschlossenes Handeln in den letzten dreißig Sekunden.
»Und - Signore!« schrie der Partisan, als Vittorio schon einen Fuß durch die Tür gesetzt hatte.
»Ja?«
»Ihre Waffe, bitte. Diese Militärwaffen sind wie Donner.« Fontini-Cristi zögerte, zog dann die Waffe heraus und reichte sie dem Mann. Der Partisan griff nach dem Feldtelefon an der Wand und riß die Leitung heraus.
Vittorio steuerte den Lastwagen vor das Wachhäuschen, die linken Räder standen auf der asphaltierten Fläche der Straße. Auf dem Seitenstreifen war nicht genügend Platz. Er hoffte, daß die Schlußlichter für den nachkommenden Verkehr - der noch dichter geworden war - hell genug waren, um das Hindernis sichtbar zu machen.
Der Partisan kam jetzt aus dem Wachhäuschen heraus und sagte durch das Fenster: »Drehen Sie den Motor hoch, Signore. So laut und so schnell Sie können.«
Das tat Fontini-Cristi. Der Partisan rannte in das Häuschen zurück. Seine rechte Hand hielt Vittorios Pistole umklammert.
Die zwei Schüsse waren tief und scharf, halb erstickte Fehlzündungen in dem brausenden Verkehr. Vittorio blickte starr nach vorn, und seine Gefühle waren eine Mischung aus Betroffenheit und Furcht und unerträglicher Besorgnis. Er war in eine Welt der Gewalt eingetreten, die er nicht begriff.
Der Partisan kam aus dem Wachhäuschen heraus und zog die schmale Tür hinter sich zu. Er sprang in die Fahrerkabine, schlug die Tür hinter sich zu und nickte zu Vittorio hinüber. Fontini-Cristi wartete ein paar Augenblicke auf eine Lücke im Verkehr und ließ dann die Kupplung kommen. Der alte Lastwagen ruckte an.
»An der Via Monte ist eine Garage, wo wir den Wagen verstecken, ihn neu streichen und die Zulassungsschilder austauschen können. Sie ist einen knappen Kilometer von der Piazza San Giorno entfernt. Wir gehen zu Fuß von der Garage hin. Ich sage Ihnen, wo Sie abbiegen müssen.«
Der Partisan hielt Vittorio die Pistole hin. »Danke«, sagte Fontini-Cristi verlegen, als er sich die Waffe in die Jackettasche schob. »Du hast sie getötet.«
»Natürlich«, antwortete der andere ausdruckslos.
»Wahrscheinlich mußtest du das.«
»Natürlich. Sie werden in England sein, Signore. Ich bin in Italien. Man könnte mich identifizieren.«
»Ich verstehe«, antwortete Vittorio, aber seine Stimme stockte.
»Ich will ja nicht respektlos sein, Signore Fontini-Cristi, aber ich glaube nicht, daß Sie verstehen. Für Sie in Campo di Fiori ist das alles neu, für uns ist es nicht neu. Wir waren zwanzig Jahre im Krieg, ich selbst war zehn Jahre dabei.«
»Krieg?«
»Ja. Wer, glauben Sie denn, bildet Ihre Partigiani aus?«
»Was willst du damit sagen?«
»Ich bin Kommunist, Signore. Die mächtigen, kapitalistischen Fontini-Cristi lernen von Kommunisten, wie man kämpft.«
Der Lastwagen polterte über die Straße. Vittorio hielt das Steuer fest umklammert. Die Worte seines Begleiters hatten ihn erstaunt, aber sie ließen ihn seltsam kalt.
»Das habe ich nicht gewußt«, sagte er.
»Das ist seltsam, nicht wahr?« sagte der Partisan. »Niemand hat mich je gefragt.«
4
30. DEZEMBER 1939 ALBA, ITALIEN
Die Espresso-Bar war überfüllt, die Tische waren voll, die Stimmen laut. Vittorio folgte dem Partisan durch die Masse gestikulierender Hände und den Weg nur widerstrebend freimachender Körper bis zur Theke. Sie bestellten Kaffee und Grappa.
»Dort drüben«, sagte der Partisan und wies auf einen Tisch in der Ecke, an dem drei Arbeiter saßen, deren schmutzige Kleider und Stoppelgesichter ihren sozialen Status erkennen ließen. Ein Stuhl war leer.
»Woher weißt du das? Ich dachte, wir sollten uns mit zwei
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