1976 - Das Jesus-Papier
riß die Hände herum, hielt sich umgedreht an den Griffen fest, lehnte sich zurück und stieß sich mit aller Kraft durch die offene Luke in den wilden Luftstrom hinaus, der die Maschine umgab. Er wurde von dem mächtigen Leitwerk weggetragen, und der Wind schmetterte mit dem Tempo und der Gewalt einer riesigen Welle gegen in.
Er befand sich in freiem Fall, zwang seine Beine in V-förmige Haltung, spürte, wie das Geschirr seines Fallschirms in seine Schenkel schnitt. Er stieß die Arme schräg nach vorn. Diese Haltung, die an ein mit einer Nadel aufgespießtes Insekt erinnerte, bewirkte das, was sie bewirken sollte: sie stabilisierte seinen Fall durch den Himmel, wenigstens soweit, daß Victor sich auf die dunkle Erde in der Tiefe konzentrieren konnte.
Jetzt sah er sie! Zwei winzige Lichtpunkte zu seiner Linken.
Er zog an einem kleinen Ring neben der Reißleine des Fallschirms. Es blitzte einen Augenblick lang über ihm auf, wie ein Feuerwerkskörper, aber nur ganz kurz. Das würde für die Leute auf dem Boden ausreichen, um ihn anzuvisieren. Dann wurde es wieder dunkel um ihn. Er riß an dem Gummigriff der Reißleine. Die Seide blähte sich um ihn, schoß aus dem Pack heraus, und dann kam der Ruck, der ihn dazu veranlaßte, den Atem auszustoßen und jeden Muskel im Gegenstoß zu straffen.
Dann schwebte er, schwang in Viertelkreisen am Nachthimmel der Erde entgegen.
Die Konferenz in Montbeliard lief gut. Seltsam, dachte Victor. Aber trotz der einfachen, ja primitiven Umgebung - ein verlassener Lagerschuppen, eine Scheune, eine mit Steinen übersäte Wiese - waren die Konferenzen auch nicht viel anders als geschäftliche Konferenzen, bei denen er die Rolle des Beraters aus der fernen Zentrale spielte. Das Ziel jeder Konferenz mit den Teams von Untergrundführern, die sich auf Schleichwegen nach Lothringen begaben, war dasselbe: geplante Einstellungen für die Gruppe von Fachleuten, die sich jetzt in England im Exil befand.
Überall wurden Führungskräfte gesucht, weil überall in der sich schnell ausdehnenden Einflußsphäre des Dritten Reiches Produktionsanlagen enteignet und auf maximalen Ausstoß gebracht werden sollten. Aber die deutsche Sucht nach sofortiger Effizienz hatte einen großen Nachteil: die Kontrolle blieb in Berlin. Alle Anforderungen wurden vom Reichsministerium für Industrie und Bewaffnung bearbeitet. Befehle wurden Hunderte von Kilometern von ihrem Ursprungsort entfernt vorbereitet und ausgestellt.
Diese Befehle konnte man unterwegs abfangen; man konnte Anforderungen am Ursprungsort ändern, innerhalb der Ministerien, in der Beamtenhierarchie sabotieren.
Man konnte Positionen schaffen, Personal ersetzen. In dem Chaos des Berliner Fiebers für sofortige, totale Effizienz war die Furcht ein wesentlicher Bestandteil. Nur selten wurden Befehle angezweifelt.
Überall war die bürokratische Landschaft für Loch Torridon reif.
»Man wird Sie zum Rhein und in Neuf-Brisach an Bord eines Flußkahnes bringen«, sagte der Franzose und ging an das Fenster der kleinen Pension, das den Blick über die Rue de Cac von Montbeliard bot. »Ihr Begleiter wird die Papiere mitbringen. Soweit mir bekannt ist, werden Sie in den Papieren als Abschaum vom Fluß beschrieben werden, ein Bursche mit einem kräftigen Rücken und wenig Verstand. Ein Ladearbeiter, der den größten Teil seines wachen Daseins in betrunkenem Zustand verbringt.«
»Das sollte interessant sein.«
DER RHEIN
Das war es nicht. Es war strapaziös bis zur Grenze der Erschöpfung und wurde durch den unter Deck herrschenden Gestank nahezu unerträglich gemacht. Der Fluß wurde von deutschen Streifen abgekämmt, die beständig die Boote anhielten und ihre Mannschaften brutalen Verhören unterzogen. Der Rhein war eine Kurierroute der Untergrundbewegung. Es bedurfte keiner besonderen Intelligenz, das zu wissen. Und weil der >Abschaum< vom Fluß es nicht besser verdiente, bereitete es den Streifen Freude, ihre Gewehrkolben einzusetzen. Fontines Deckidentität war erfolgreich, wenn auch abstoßend. Er trank genug Fuselwein und übergab sich häufig genug, um seinem Atem den fauligen Gestank des gelernten Alkoholikers zu verleihen.
Was ihn davon abhielt, jegliche Sensibilität zu verlieren, war sein Begleiter. Der Mann hieß Lübok, und Victor wußte, daß, so groß sein eigenes Risiko auch sein mochte, das Lüboks weit größer war.
Lübok war Jude und Homosexueller. Er war ein blondhaariger, blauäugiger Ballettmeister in mittleren Jahren,
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