1976 - Das Jesus-Papier
dessen tschechoslowakische Eltern vor dreißig Jahren nach Berlin emigriert waren. Er sprach die slowakische Sprache ebenso fließend wie die deutsche und besaß Papiere, die ihn als Dolmetscher für die Wehrmacht auswiesen. Bei seinen Papieren befanden sich auch einige Briefe mit dem Briefbogen des Oberkommandos der Wehrmacht, die Lüboks Loyalität dem Reich gegenüber bestätigten.
Die Papiere und die Briefbögen waren echt, die Loyalität war falsch. Lübok operierte als Untergrundkurier über die Grenzen der Tschechei und Polens. Bei solchen Anlässen trug er seine homosexuelle Veranlagung offen zur Schau. Es war allgemein bekannt, daß es im Offizierskorps solche Kreise gab. An den Kontrollpunkten wußte man nie, wer gerade Favorit der Mächtigen war, die sich Männern zugeneigt fühlten. Und der Ballettmeister war eine Enzyklopädie von Wahrheiten, Halbwahrheiten und Klatsch in bezug auf die sexuellen Praktiken und Verirrungen, wie sie von den Angehörigen des deutschen Obersten Kommandos in jedem beliebigen Sektor und jeder beliebigen Zone praktiziert wurden, in der er sich gerade aufhielt. Das war sein Inventar; das war seine Waffe.
Lübok hatte sich für den Loch-Torridon-Einsatz freiwillig gemeldet, als MI-6-Eskorte von Montbeliard über Wiesbaden nach Prag und dann Warschau. Und während die Reise ihren Verlauf nahm und die Tage und Kilometer an ihm vorbeizogen, war Fontine dankbar dafür. Lübok war der Beste. Unter den sorgfältig geschneiderten Anzügen steckte ein kraftvoller Mann, dessen beißender Humor und dessen durchdringender Blick die Garantie für ein hitziges Temperament, gepaart mit htelligenz, boten.
WARSCHAU, Polen
Lübok fuhr das Motorrad, in dessen Beiwagen Victor saß, der die Uniform eines Oberst der Wehrmacht trug. Sie verließen gerade Lodz auf der Straße nach Warschau und erreichten den letzten Kontrollpunkt kurz vor Mitternacht.
Lübok spielte seine Rolle meisterhaft vor den Streifen, sprudelte die Namen einzelner hoher Offiziere und SS-Dienstgrade heraus und ließ durchblicken, daß mit allen möglichen Repressalien zu rechnen wäre, falls man sie aufhielte. Die Wachen verspürten nicht die geringste Neigung, ihn auf die Probe zu stellen. Das Motorrad wurde durchgewinkt; sie rollten in die Stadt.
Es war Chaos. Obwohl es finster war, konnte man überall Schutt sehen. Eine Straße nach der anderen verlassen, in Fenstern brannten Kerzen, es gab kaum mehr Elektrizität. Drähte hingen herunter, Automobile und Lastkraftwagen standen überall, Dutzende davon umgekippt, wie riesige stählerne Insekten, die nur darauf warteten, auf einem Labortisch aufgespießt zu werden.
Warschau war tot. Seine bewaffneten Killer gingen in Gruppen umher und hatten selbst Angst vor der Leiche.
»Wir fahren zum Casimir«, sagte Lübok mit leiser Stimme. »Der Untergrund erwartet Sie. Das sind höchstens noch zehn Straßen von hier.«
»Was ist das Casimir?«
»Ein alter Palast an der Krakow-Straße, mitten in der Stadt. Jahrelang war dort die Universität; jetzt benutzen die Deutschen das Gebäude als Kaserne und Büro.«
»Und dort gehen wir hin?«
Lübok lächelte in der Dunkelheit. »Man kann Nazis zwar in Universitäten stecken, aber das heißt noch lange nicht, daß sie dort etwas lernen. Die Reinigungsmannschaften für sämtliche Gebäude sind Podziemna. Für Sie Untergrund. Wenigstens der Anfang einer Untergrundbewegung.«
Lübok zwängte das Motorrad zwischen zwei Dienstwagen auf der Krakow-Straße hindurch, sie befanden sich inzwischen schräg gegenüber des Haupteingangs des Casimir. Abgesehen von den Wachen am Tor war die Straße verlassen. Nur zwei Straßenlaternen funktionierten noch, aber auf dem Gelände des Casimir stachen Scheinwerferbalken in die Höhe und beleuchteten die prunkvolle Fassade des Gebäudes.
Ein deutscher Soldat trat aus dem Schatten auf sie zu. Er blieb neben Lübok stehen und sprach ihn leise in polnischer Sprache an. Lübok nickte, der Deutsche setzte seinen Weg schräg über die breite Straße hinweg auf das Tor des Casimir zu fort.
»Er ist bei der Podziemna«, sagte Lübok. »Er hat die korrekten Codes gebraucht. Er sagt, Sie sollten als erster hineingehen. Fragen Sie nach Hauptmann Hans Neumann, Block sieben.«
»Hauptmann Hans Neumann«, wiederholte Victor. »Block sieben. Und dann?«
»Er ist heute der Kontakt im Casimir. Er wird Sie zu den anderen bringen.«
»Was ist mit Ihnen?«
»Ich soll zehn Minuten warten und dann nachkommen. Ich soll
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