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1980 Die Ibiza-Spur (SM)

1980 Die Ibiza-Spur (SM)

Titel: 1980 Die Ibiza-Spur (SM) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hinrich Matthiesen
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nur bedeuten, daß es ihnen darum gegangen war, seinen gewaltsamen Tod zu kaschieren.
    Klaus Hemmerich hatte keine Hoffnung mehr, und so wurde diese Stunde am Schreibtisch seines Bruders eine der tiefen, ohnmächtigen Trauer. Und mit der Trauer kam der Zorn und mit dem Zorn der Haß, und der Haß wuchs, als er sich nun doch den von Victor geschilderten Ereignissen zuwandte. Er stand auf und begann, im Zimmer auf und ab zu gehen. Es gab Fragen, die am Abend noch nicht dagewesen waren:
    Was sage ich unserer Mutter? Weihe ich sie ein, oder erhalte ich ihr, solange es geht, den Zustand des Zweifelns, der noch Hoffnung erlaubt? Und falls ich sie einweihe, wie denn? Wie mach ich’s? Sie darf diesen Brief nie lesen! Sie würde sonst einem Turmzimmertrauma verfallen mit immer denselben Bildern, der Sohn gefangen! Wie ein Tier in der Falle! Draußen die Jäger, lauernd, tückisch, mordbereit. Die Steilwand als fragwürdiger Weg in die Freiheit. Und dann, die seitdem vergangenen Wochen und mit ihnen die Gewißheit des Todes. Schließlich, was für eines Todes?
    Es gab weitere Fragen. Sollte es dabei bleiben, daß er nach Ibiza fuhr? Ganz sicher, denn Victors ausdrücklicher Wunsch, es zu unterlassen, gehörte zu den Bitten, die man nicht erfüllt, aus Liebe nicht erfüllt, wie ja auch der Wunsch selbst allein aus der Liebe kam. Er würde also reisen, nur galt es jetzt, viel umsichtiger vorzugehen, zum Beispiel reiflich zu überlegen, ob als Quartier weiterhin das CASTILLO in Betracht kam. Auch in diesem Punkt fand er die Antwort schnell. Es mußte bei dem alten Plan bleiben, denn sonst würde er auf den vermutlich besten Ansatzpunkt verzichten und bei seinen ersten Nachforschungen auf ein paar Restaurantbesuche im CASTILLO angewiesen sein. Da versprach es mehr, sich direkt in die Höhle des Löwen zu begeben und dort von vornherein rund um die Uhr zu observieren. Er war froh, sich unter falschem Namen angemeldet zu haben, denn sonst wären sie schon jetzt, bevor er sich überhaupt auf den Weg gemacht hatte, auf seiner Spur. Was mache ich mit Christiane? fragte er sich. Er wußte es noch nicht, wollte ihr aber auf jeden Fall den Brief zeigen.
    Er sah aus dem Fenster. Draußen war es schon hell geworden. Er beschloß, sich nicht wieder hinzulegen, duschte, zog sich an, ging in die Küche und machte sich einen starken Kaffee, mit dem er es dann auch schaffte, die Auswirkungen der schlaflosen Nacht zu überbrücken. Er zog sich einen Mantel über, verließ das Haus, ging an die Elbe.
    Der Weg durch den Morgen und durch den Wind erfrischte ihn, aber als er die Uferböschung erreichte, packte ihn, wie aus dem Hinterhalt, das ganze Ausmaß seiner Trauer. Hier hatten sie als Kinder stundenlang auf dem Bauch gelegen und auf den Fluß gesehen, hatten die Schiffe gezählt, und Victor, mit seinem Vorsprung an Jahren, hatte ihm die Typen erläutert und die Flaggen erklärt und von den Herkunftsländern erzählt. Und sie hatten die Zeit vergessen und von großen gemeinsamen Reisen geträumt.
    Er setzte sich ins Gras, zündete sich eine Zigarette an, sah hinüber zur Vogelschutzinsel Neßsand, dann über sie hinweg in den grauen nordischen Himmel und wieder zurück aufs Wasser, auf die Fahrrinne, in der ein mit Containern beladener argentinischer Frachter seewärts stampfte, dicht gefolgt von einem Pulk schreiender Möwen. Je länger er hier verweilte, desto schwerer wurde es ihm, aber er hielt durch, und so, als wollte er sich üben im Schmerz und sich wappnen für seinen Weg auf die südliche Insel, begann er, das ganze Glück vergangener Jahre aus der Erinnerung heraufzuholen, ging in Gedanken noch einmal alles durch, ersparte sich nichts, spielte die Spiele nach, schwamm die Schwimmstrecken ab, wriggte mit dem Dingi hinüber zum anderen Ufer, ließ Drachen steigen, Papierschiffchen fahren und Flaschenpost abgehen. Und erlebte Herbsttage nach, an denen er an genau dieser Stelle des Ufers stand und sich in den Westwind lehnte wie gegen eine Wand. Turnte auf treibenden Eisschollen herum und vergaß nicht, sich zu erinnern, wie er bei alledem in der Geborgenheit ruhte, die ihm der große Bruder gab. Und wurde von Augenblick zu Augenblick trauriger. Und entschlossener.

VI.
    Es war in einem der alten, malerischen Restaurants der Deichstraße, die die Hamburger als Denkmäler hüten und pflegen. Dort saßen sie sich gegenüber, Klaus Hemmerich und seine einstige Schwägerin Christiane Hagen. Unter anderen Voraussetzungen hätte der Blick aus

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